An der Registrierkasse, an der man sowohl für den unordentlichen kleinen Laden als auch für die Tankstelle zahlte, stand ein junges Mädchen mit modisch gelocktem Haar, schlechter Haut und einem goldenen Stecker in einem Nasenflügel. Sie lehnte auf dem Tresen neben der Kasse und las in einem Magazin, das sich offensichtlich den Interessen von Teenagern widmete, während sie Meredith dabei beobachtete, wie sie um die Regale strich. Meredith fühlte sich getrieben, etwas zu erstehen, und wählte einen halben Liter H-Milch und eine Tafel Schokolade vom Süßigkeitenstand aus. Sie bezahlte ihren Einkauf und das Benzin und bemerkte dabei auf dem Tresen ein handgemaltes Schild:
Sie benötigen ein Schild oder dekorative Brandmalerei? Besuchen Sie W. Hardy in Spinner’s Cottage gegenüber The Fox.
Darunter, wohl als Probearbeit gedacht, war ein gemaltes Eichhörnchen zu sehen sowie die in gotischer Schrift gehaltenen Worte
»Zum Lorbeerkranze«, ungeachtet der Tatsache, dass Eichhörnchen im Allgemeinen nicht mit Lorbeerbäumen in Verbindung gebracht wurden.
»Möchten Sie die Rabattmarken?«, erkundigte sich die junge
Dame mit dem Nasenstecker.
»Wozu sind die gut?« Meredith riss ihren Blick von dem Holzschild los.
»Georges Idee. Wir geben Rabattmarken aus für alles, was Sie bei uns kaufen. Sie können Sie hier im Laden wieder einlösen.« Mr. Naseby war offensichtlich ein besserer Geschäftsmann, als das Sortiment seines Ladens vermuten ließ. Meredith lehnte die Marken ab.
»Sind Sie zu Besuch?«, fragte das Mädchen. Es musste sterbenslangweilig sein, den ganzen Tag hier zu sitzen, und jeder Neuankömmling war von Interesse.
»Ich bleibe eine Weile bei einer Freundin, ja. Oben in Lynstone.«
»Hübsche Häuser, dort oben«, sagte das Mädchen neidvoll und musterte Meredith mit kritischem Auge.
»Sie kennen vielleicht Mrs. Constantine?«, erkundigte sich Meredith.
»Ich schätze, dass sie hin und wieder bei Ihnen tankt?«
»Sie kommt nie. Ihr Mann kam manchmal. Meistens bringt der Chauffeur den Wagen her.« Unerwartet lief das Mädchen rot an. Wie es aussah, hatte Martin also hier eine Eroberung gemacht. Wahrscheinlich gab es nicht besonders viele einigermaßen gut aussehende Männer in der Ortschaft, und selbst wenn, wäre Martin ohne jeden Zweifel interessanter gewesen. Die einheimischen Jugendlichen hatten keine Chance gegen ihn. Das Mädchen stützte die Ellbogen auf die Theke und fuhr in vertraulichem Tonfall fort:
»Das war ein schrecklicher Mord!«
»Mr. Constantine? Ja. Eine grässliche Geschichte.«
»Er war so ein netter Mann!«, sagte das Mädchen.
»Immer freundlich. So was merkt man sich.« Auf dem Rückweg nach Malefis Abbey dachte Meredith über die Tatsache nach, dass sie noch kein einziges böses Wort über den verstorbenen Alex Constantine gehört hatte. Die Menschen hier mochten seine Frau vielleicht nicht besonders, doch sie hatten Alex gemocht. Und doch hatte irgendjemand ihn umgebracht. Meredith fragte sich, ob Alex immer so nett gewesen war.
»Dad?«, fragte Gillian.
Sie stand in der Tür zu seinem
»Atelier«. Es war im Grunde nur ein gewöhnlicher Gartenschuppen, doch sie nannten es Mr. Hardys Atelier, weil er hier seine Malereien und Schnitzereien anfertigte. Aus seinem
»Atelier« kamen fast alle Schilder in der Gegend von Lynstone und Church Lynstone, und gerade jetzt arbeitete Mr. Hardy an seinem
»großen Projekt«: an dem dringend nötigen neuen Wirtshausschild für The Fox.
»Wie geht es voran?«, fragte sie und ging auf ihn zu.
Er lehnte sich in seinem Rollstuhl zurück und begutachtete die Holztafel, die vor ihm aufgestellt war.
»Geht so«, sagte er schließlich.
Er hatte beschlossen, mit dem bisherigen Motiv zu brechen und stattdessen eine Füchsin mit Jungen zu malen. Gillian hielt sein Vorhaben für ein wenig zu ehrgeizig, doch das sagte sie ihm nicht. Die Fuchsjungen sahen aus wie Kätzchen, und die Füchsin stand über ihnen, als wäre sie bereit, ihre Brut zu fressen. Das gesamte Bild war alles andere als bezaubernd, im Gegenteil, es wirkte richtiggehend grausig.
»Ma fragt sich, ob dir hier draußen nicht zu kalt wird?
Möchtest du, dass ich den Gasofen anzünde?«
»Wenn mir kalt wird«, beschied sie Mr. Hardy,
»läute ich die Glocke.« Er deutete mit dem Pinsel auf ein Stück Schnur über seinem Kopf. Die Schnur verlief entlang der Decke bis zu einem Loch in der Wand, durch den kleinen Hinterhof und in die Küche, wo sie an einer kleinen, von einem Haken baumelnden Messingglocke befestigt war. Gillian setzte sich zu ihrem Vater und beobachtete ihn eine Weile bei der Arbeit.
»Dad, kann ich dich etwas fragen?«
»Sicher kannst du«, antwortete Mr. Hardy.
»Es ist wegen Nevil, Dad. Ich weiß nicht, was ich machen soll.«
»Und warum«, fragte ihr Vater,
»glaubst du, dass du etwas machen musst?« Sie errötete.
»Er … er braucht Hilfe.«
»Oh. Ja, die braucht er tatsächlich«, murmelte Mr. Hardy bedrohlich.
»Du magst Nevil doch, oder nicht?« Ein zweifelnder, überraschter Unterton klang aus ihrer Frage. Mr. Hardy legte umständlich seinen Malerpinsel beiseite und drehte sich mitsamt seinem Rollstuhl zu seiner Tochter um.
»Nein.«
»Warum nicht?« Auf Gillians schlichtem Gesicht spiegelten sich Verwirrung und Ärger wider.
»Nun hör mir einmal gut zu, mein Kind!«, setzte Mr. Hardy an.
»Komm mir bloß nicht auf dumme Gedanken wegen diesem Nevil James! Damit verschwendest du nichts weiter als deine Zeit.« Einen Augenblick lang sah sie aus, als sei sie den Tränen nahe.
»Wahrscheinlich tue ich das, ja! Er beachtet mich nicht! Vielleicht würde er es tun, wäre sie nicht! Er ist völlig besessen von ihr!« Unerwartet und mit rauer Stimme sagte Mr. Hardy:
»Du würdest gerne von zu Hause fortgehen, nicht wahr? Dir eine eigene Wohnung in Chippy oder sonst wo suchen. Eine Arbeit annehmen. Dir einen Freund suchen und viele neue Kleider kaufen und ein gutes Leben führen.«
»Nein, Dad«, antwortete sie müde.
»Ich mag meine Arbeit in der Tierpension.«
»Nein, tust du nicht. Du bleibst nur wegen diesem Burschen hier! Du bleibst nicht wegen deiner Mum und mir. Aber es ist, wie ich gesagt habe – du verschwendest deine Zeit.«
»Das ist nicht fair! Ich würde dich und Mum niemals im Stich lassen!« Ihr Elend wich Zorn. Sie schob das lange glatte Haar zurück und fuhr entschlossener fort:
»Hör zu, wegen Nevil – selbst wenn er nicht an mir interessiert ist, sollte er nicht dauernd in Malefis Abbey vorbeigehen, jetzt, da Rachel Constantine Witwe ist. Er müsste doch merken, dass sich die Situation verändert hat! Die Leute werden anfangen zu reden! Schließlich ist Rachel jetzt frei, und … oh, Dad! Du verstehst sicher, warum ich mir solche Sorgen mache!« Mr. Hardy stieß ein rasselndes Kichern aus.
»Sie wird den jungen Nevil gewiss nicht heiraten, falls es das ist, was dir so viel Kopfzerbrechen bereitet!«
»Aber sie wird ihn in Schwierigkeiten bringen!«
»War das rein biologisch nicht immer andersherum?«
»Du bist ekelhaft, Dad!«, fauchte sie ärgerlich.
»Ein Polizist aus London kommt hierher, ein Superintendent Hawkins. Er wird eine Menge Fragen stellen, und er könnte anfangen zu glauben, dass Nevil eifersüchtig war auf Alex und … und etwas getan hat.«
»Was denn, Nevil soll den Zug nach London genommen und Constantine ermordet haben? Dazu hätte er ganz be stimmt nicht den Mumm!«
»Ich weiß, das ist lächerlich! Aber wenn er immer weiter in Malefis ein und aus geht, jetzt, wo Alex tot ist, könnte die Polizei anfangen … na ja, eben alles Mögliche zu denken!« Ihre Besorgnis war so offensichtlich, dass Mr. Hardy sich bemüßigt fühlte, ihr einen wenn auch schroffen Trost zu bieten.
»Hör zu, mein Mädchen. Es ist ganz allein Sache des jungen James, von dieser Frau loszukommen. Wenn er das nicht kann, kannst weder du noch irgendjemand anderer daran etwas ändern.«
»Aber er will nicht von ihr loskommen! Sie hat ihn eingewickelt! Sie ist diejenige, die ihn gehen lassen muss! Das muss sie doch einsehen!«
»Du kannst nichts daran ändern, Gillian, hör auf, dir den Kopf zu zerbrechen. Geh lieber und hol mir eine Tasse Tee.« Er nahm seinen Pinsel wieder zur Hand. Gillian stand auf und ging nach draußen. Eine Tasse Tee, dachte sie müde, als sie den Hof durchquerte, ist in diesem Haus das patentierte Wundermittel gegen sämtliche emotionalen Probleme. Deprimiert? Setz den Kessel auf. Missverstanden? Herzschmerz? Koch noch eine Kanne. Manchmal fühlte sich Gillian wie Samson, angekettet an die Säulen des heidnischen Tempels. Sie wollte mit all ihrer Kraft um sich schlagen und die klaustrophobische Enge ihres Elternhauses zum Einsturz bringen, alles darunter begraben. Kurz bevor sie die Hintertür erreichte, blickte sie zufällig die schmale Gasse entlang, die neben dem Haus verlief. In diesem Augenblick fuhr ein fremder Wagen durch die Hauptstraße, mit einer jungen Frau am Steuer. Sie fuhr den Berg hoch in Richtung Lynstone. Gillian fragte sich, ob das möglicherweise die Frau war, von der Molly gesprochen hatte, die Frau, die ei ne Weile bei Rachel Constantine wohnen würde. Schon wieder Rachel. Nevil musste unter allen Umständen aus den Klauen dieser Frau befreit werden, koste es, was es wolle. Laut sagte Gillian:
»Nun, ich werde auf jeden Fall etwas dagegen unternehmen, das steht fest!« Und mehr noch, sie wusste auch schon einen Weg.
KAPITEL 8
An jenem Freitagmorgen, an dem Meredith nach Lynstone fuhr, saß Alan Markby im Büro seiner Schwester in einer angesehenen ortsansässigen Anwaltskanzlei, nippte an einer Tasse Kaffee und gab sein Bestes, die Lage zu erklären. Sein Bestes war nicht gut genug.
»Ich glaube, du bist verrückt geworden!«, sagte Laura ärgerlich.
»Rein zufällig ist das nicht nur meine Meinung als deine Schwester, sondern als dein Rechtsbeistand! Deine Scheidung war einer der bittersten Fälle, die ich das Missgeschick hatte zu verhandeln! Ich will nie wieder etwas mit Rachel zu tun haben! Und ganz bestimmt will ich nicht noch einmal einen Brief von ihren Anwälten erhalten! Sie hat uns alle gründlich durch die Mangel gedreht, und jetzt stehst du tatsächlich im Begriff, dich wieder von ihr benutzen zu lassen, Alan! Was ist nur in dich gefahren?!«
»So ist es nicht!«, widersprach er schwach.
»Ha! Dann verrate mir doch, wie es ist!« Laura stemmte die Ellenbogen auf eine Dokumentenbox, die irgendjemandes Testament enthielt. Ihr langes blondes Haar hing in dichten Locken bis auf die Schultern herab. Einmal mehr dachte Alan, dass niemand weniger nach einem erfolgreichen Anwalt aussah als seine Schwester. Tatsächlich war genau Lauras fantastisches Aussehen ihr schwerstes Geschütz. Vor Gericht waren mehr Richter, Geschworene und Staatsanwälte durch den Anblick der sittsam dasitzenden Verteidigerin in dem schwarzen Kleid mit den langen, wohl geformten Beinen und den hochhackigen Schuhen abgelenkt worden, als man zählen konnte. Das Eigenartige daran, dachte Markby jetzt, war die Tatsache, dass andere Frauen ihr nicht ablehnend gegenüberstanden, obwohl man das doch hätte erwarten können. Doch die meisten Frauen, mit denen sich Markby über Laura unterhalten hatte, schienen sich darüber zu freuen, dass es wenigstens eine unter ihnen gab, die im Stande war, Männer in ihrem eigenen Spiel zu schlagen.
»Sie ist verwitwet, und zwar unter äußerst unglücklichen Umständen, also sollten wir um der reinen Menschlichkeit willen einen Versuch unternehmen«, sagte Markby salbungsvoll. Laura gab ihm darauf eine höchst rüde Antwort.
»Außerdem ist auch Meredith …«
»Ja, genau: Was ist mit Meredith? Wie wird sie sich fühlen, wenn du am Sonntagmittag zum Essen in diesem Malefis Abbey aufläufst? Allein der Name dieses Hauses, ich könnte schreien! Die Vorstellung, dass ihr drei dort an einem Tisch sitzen und so tun werdet, als sei es das Normalste auf der Welt! Was für eine Farce!«
»Ich glaube nicht, dass einer von uns Spaß daran haben wird!«, protestierte er.
»Kommt ganz auf den jeweiligen Sinn für Humor an. Vielleicht sollte man die Geschichte verfilmen? Ich sehe schon jetzt die Plakate: Die Ehefrau, der Polizist und seine Geliebte!«
»Rachel ist nicht mehr meine Frau! Sie war Alex’ Frau! Und außerdem wäre ich dir wirklich dankbar, wenn du Meredith nicht meine Geliebte nennen würdest! Das gefällt ihr nämlich überhaupt nicht! Ich bin auch nicht scharf auf diesen Aus druck! Wir sind Freunde, das ist alles, klar?«
»Ganz falsch. Aber darum geht es jetzt im Augenblick auch gar nicht. Halt dich fern von Malefis Abbey, Alan, mehr sage ich nicht.«
»Ich kann aber nicht!« Markby setzte seine Tasse ab und stand auf.
»Ich fahre nicht wegen Rachel nach Malefis Abbey. Ich fahre wegen Meredith. Irgendwo dort unten läuft ein Mörder frei herum, das spüre ich in jedem Knochen! Ich habe Urlaub eingereicht. Ich werde in Lynstone bleiben, solange Meredith bleibt!«
»In Malefis Abbey? Alan!«
»Nein, Laura, nicht in Malefis Abbey. So viel Diskretion könntest du mir ruhig zutrauen! Soweit ich weiß, gibt es ganz in der Nähe ein Hotel, das Lynstone House. Ich habe von Sonntagabend an ein Zimmer reserviert.« Laura rümpfte die Nase.
»Ganz wie du meinst. Fahr hin und spiel den Leibwächter, wenn du unbedingt musst. Aber überlass die Ermittlungen diesem Hawkins!«
»Das werde ich, selbstverständlich! Es ist nicht mein Fall, und jede Einmischung meinerseits wäre alles andere als korrekt!« Seine Schwester begegnete dieser großspurigen Eröffnung mit dem nötigen Misstrauen:
»Halt dich auch dran!« Sie zögerte.
»Versprichst du mir, vorsichtig zu sein, Alan? Damit meine ich nicht nur, dass du dich vor Rachels Tricks in Acht nehmen oder Hawkins nicht auf die Füße treten sollst. Falls du Recht hast mit deiner Vermutung, dann könnte dieses Lynstone ein höchst gefährlicher Aufenthaltsort für alle Beteiligten werden!« Nach dem Besuch bei seiner Schwester schlenderte Markby zu Fuß durch die geschäftigen Straßen der kleinen Stadt zurück in sein Büro. Er spazierte gerne durch Bamford. Er fühlte sich hier zu Hause. Die Menschen kannten ihn, und viele grüßten ihn sogar. Dieses Gefühl, Mitglied einer Gemeinde zu sein, war in vielerlei Hinsicht höchst hilfreich bei seiner Arbeit – und in anderer Hinsicht ein Problem. Vor gar nicht langer Zeit hatte er sogar eine Beförderung zum Superintendent abgelehnt, weil dies eine Versetzung von Bamford weg zur Folge gehabt hätte, weg von der Stadt, die er so mochte, von Meredith, die sich hier gerade erst ein Haus gekauft hatte. Doch der Ball, den er gekonnt retourniert zu haben glaubte, war unerwartet hart in sein Feld zurückgeschlagen worden: Eine Straffung des Bamforder Reviers war geplant; seine Stelle als Chief Inspector sollte gestrichen werden. Er stand nun vor einer einfachen Wahl. Er konnte die Beförderung zum Superintendent annehmen und weiter Polizist sein – und musste damit rechnen, im Bedarfsfall in eine andere Stadt versetzt zu werden. Oder er konnte eine aller Wahrscheinlichkeit nach finanziell lohnende Frühpensionierung akzeptieren – was bedeutete, dass er sich eine andere Tätigkeit suchen musste. Markby wollte keine andere Tätigkeit. Er mochte genau die, die er gegenwärtig ausübte, vielen Dank. Markby kam zum Market Square und betrat die örtliche Drogerie. In der Tasche hatte er den Film, dessen Bilder er auf der Chelsea Flower Show angefangen hatte zu verschießen. Markby hätte ihn längst entwickeln lassen müssen, selbst wenn der Film nur halb voll gewesen wäre, doch ein Gefühl für Sparsamkeit hatte ihn bewogen, damit zu warten, bis auch noch das letzte Bild verschossen war. Jetzt würde er ihn entwickeln lassen und dann Hawkins die relevanten Abzüge zusenden. Unwahrscheinlich, dass etwas darunter sein dürfte, was das Interesse des Londoner Superintendents erweckte, doch man konnte nie wissen. Die Fototheke der Drogerie war die Domäne von Mrs. Macdonald. Sie kam aus einem der hoch im Norden gelegenen Teile der Britischen Inseln und war nach und nach südwärts gewandert, bis sie irgendwann in den Cotswolds gelandet und dort geblieben war. Das war vor einigen Jahren gewesen, und niemand hatte gewagt, sie nach dem Grund dafür zu fragen. In all der Zeit seither hatte sie weder ihren Akzent verloren, noch die Art und Weise aufgegeben, wie sie beim Gebrauch des Englischen schluderte. Markby kannte sie seit ihrem ersten Tag in Bamford und wusste, dass Vertraulichkeiten in ihrem Fall nicht angebracht waren. Sie erwartete ihn hinter ihrem Schalter, das kurze Haar in ordentliche Locken gekämmt, mit glänzender Brille und in einem makellos weißen Nylonkittel.
»Guten Morgen, Miss Macdonald«, begrüßte Markby sie.
»Wie geht es Ihnen heute?« Es war ein Ritual, das zu beachten war, vergleichbar dem, das man befolgen musste, näherte man sich einem chinesischen Mandarin. Man hatte stets zuerst zu grüßen. Kundschaft, die sich ihrem Schalter näherte und ohne Beachtung elementarer Höflichkeitsformeln direkt zur Sache kam, erfuhr eine recht schroffe Behandlung.
»Guten Morgen, Chief Inspector Markby!«, antwortete Miss Macdonald.
»Mir geht es gut, danke der Nachfrage.« So weit, so gut. Markby überlegte, dass Miss Macdonald die gleiche Antwort wohl auch dann noch gegeben hätte, wenn sie auf ihren Verkaufstresen gestützt nach dem letzten Atemzug rang. Dies dürfte wohl wenigstens zum Teil daran liegen, dass jedes Eingestehen einer Schwäche in ihren Augen aus Selbstmitleid geboren wurde, und zum anderen, weil sie der festen Meinung war, dass ihr Befinden den jeweils Fragenden nicht das Geringste anging.
»Und was kann ich für Sie tun?«, erkundigte sie sich, als würde er im nächsten Augenblick nach der einen oder anderen Dienstleistung fragen, die überhaupt nichts mit ihrem Geschäft zu tun hatte. Markby zog die Filmrolle aus der Tasche.
»Könnten Sie mir den hier bitte entwickeln? Wenn möglich den Sechzig-Minuten-Service?« An dieser Stelle jedoch wich das Gespräch plötzlich vom Ritual ab. Miss Macdonald sah Markby verlegen an, und ihre Antwort schien durchtränkt von Sorge.
»Oh, Chief Inspector! Das ist unmöglich! Die Maschine ist kaputt, und der Techniker schafft es heute nicht mehr! Und morgen ist Samstag, da arbeitet er überhaupt nicht!« Miss Macdonalds Stimme klang spröde vor Missbilligung. Sonntags hätte sie nicht ein einziges Unkraut aus den Beeten in ihrem Garten gezogen, doch sie war ganz und gar nicht damit einverstanden, wenn Menschen an den übrigen Wochentagen nicht arbeiteten.
»Ich muss den Film einschicken. Es wird sicher eine Woche dauern! Wäre das in Ordnung?« Das brachte Markby in eine schwierige Lage. Es gab noch einige andere Geschäfte in der Stadt, wo er den Film hätte entwickeln lassen können, doch Miss Macdonald würde ihm ohne jeden Zweifel verübeln, wenn er zur Konkurrenz ginge, nachdem er nun schon einen Teil ihrer Zeit beansprucht hatte. Sie wartete auf seine Antwort. Er entschied sich für Takt statt für Tapferkeit.
»Selbstverständlich. Aber ich bin nächste Woche nicht in der Stadt. Sergeant Pearce wird ihn für mich abholen kommen.«
»Ich werde es notieren, Chief Inspector!« Was sie sogleich auf einem Stück Papier tat. Markby musste Pearce einschärfen, dass er den Film selbst würde abholen müssen. Miss Macdonald würde sich gewiss weigern, ihn irgendeiner anderen unautorisierten Person auszuhändigen. Und er musste noch an diesem Abend in Malefis Abbey anrufen und ihnen mitteilen, dass er ein Zimmer im dortigen Hotel gebucht hatte.
Markby hatte sich gestählt in der Erwartung, Rachel am anderen Ende der Leitung zu hören, als er in Malefis anrief. Er spürte, wie sich der Knoten in seinem Magen auflöste, als er stattdessen Merediths Stimme vernahm, und diese Tatsache verriet ihm überdeutlich, wie die Aussicht auf das Wiedersehen mit Rachel an seinen Nerven zerrte. Laura hatte Recht gehabt, ihn zu warnen. Er versuchte sich völlig auf Meredith zu konzentrieren, was ihm ein wenig half. Sie war nicht besonders erfreut gewesen, dass er auch nur für einen Tag nach Lynstone kommen wollte, und er wusste nicht, wie sie die Nachricht aufnehmen würde, dass er länger zu bleiben gedachte. Er war erleichtert, ja sogar überrascht, als er sie sagen hörte:
»Das macht mir überhaupt nichts, wirklich nicht! Hättest du mich gestern gefragt, bevor ich losgefahren bin, hätte ich etwas anderes geantwortet, aber jetzt bin ich hier, und ich gestehe, ich bin froh darüber, dich zu sehen und nächste Woche in meiner Nähe zu haben.«
»Was ist passiert?«, fragte er scharf.
»Noch nichts, Alan. Jeder hier mochte Alex und bedauert sein Ableben. Ansonsten herrscht in diesem Dorf tote Hose, wenngleich das vielleicht keine besonders glückliche Wortwahl ist. Das Begräbnis findet übrigens am nächsten Dienstag statt, falls du also vorhast, so lange zu bleiben, solltest du eine schwarze Krawatte mitbringen.« Er stöhnte auf, und sie fuhr fort:
»Das ist noch nicht das Schlimmste, Alan. Hawkins ist auf dem Weg hierher. Er wird ebenfalls im Hotel wohnen. Ihr könnt euch gegenseitig Gesellschaft leisten.« Er hätte sich wirklich vorher über Hawkins’ Pläne informieren können! Jetzt war es dazu zu spät. Wenigstens konnte er auf diese Weise Hawkins gleich die Abzüge in die Hand drücken, sobald Pearce den entwickelten Film ans Hotel geschickt hätte.
Meredith hängte den Hörer auf die Gabel und kehrte zu Rachel zurück, die vor dem Fernseher saß und düster auf den Knöpfen der Fernbedienung herumdrückte. Als Meredith in das Zimmer kam, schaltete sie den Apparat aus und warf die Fernbedienung achtlos auf ein Kissen.
»Was hat Alan gesagt? Er kommt doch am Sonntag, oder?«
»Ja … und er bleibt ebenfalls ein paar Tage … im Hotel.« Rachels volle Lippen verzogen sich zu einem strahlenden
Lächeln.
»Ich wusste doch, dass er mich nicht im Stich lassen würde! Der liebe Alan!«
Das war zu viel, um es schweigend ertragen zu können. Meredith warf sich in einen hohen Lehnsessel und fauchte:
»Er war nicht der ›liebe Alan‹, als du ihn weggeworfen hast!«
»Das ist doch schon Ewigkeiten her – und außerdem habe ich ihn nicht weggeworfen! Wir haben uns in Freundschaft getrennt!«
»Nicht nach allem, was ich gehört habe!«
»Nun, du hast nicht meine Seite der Geschichte gehört, oder?«, entgegnete Rachel scharf. Das traf zu, wie Meredith sich eingestand.
»Entschuldige, Rachel. Es geht mich sowieso nichts an.« Rachel zuckte mit den Schultern.
»Vermutlich schon, irgendwie. Ich meine, du und Alan, ihr seid jetzt ein Paar oder wie auch immer du es nennst.«
»Wir sind kein Paar! Ehrlich, Ray …«
»Nun, was auch immer! Unsere Ehe war ein Fehler. Wir haben es beide eingesehen. Er war unglücklich, ich war unglücklich, und das war es eben. Wir haben beide aufgegeben. Wir waren nicht kirchlich verheiratet, weißt du, nur standesamtlich. Meine Familie hat unsere Ehe nicht gutgeheißen. Sie hatten alle Recht mit ihren Zweifeln, aber damals dachte ich, sie sperren sich einfach nur! Oh, sicher, sie mochten Alan, und er stammt aus einer sehr anständigen Familie. Aber sie kannten mich, und sie wussten, dass ich nicht durchhalten würde. Jedenfalls hat es uns die Sache mit der Scheidung viel einfacher gemacht, ich meine, dass wir nur standesamtlich verheiratet gewesen waren. Zwar nicht aus gesetzlicher, aber doch aus kirchlicher Sicht, verstehst du? Nicht, dass ich religiös wäre, aber meine Familie ist sich des Unterschieds wohl bewusst.«
»Wenn deine Familie so gegen diese Ehe war und du so bald bemerkt hast, dass es ein Fehler war – wieso warst du dann zu Anfang so sicher?« Es gelang Meredith nicht, ihre Neugier zu unterdrücken.
»Ich meine, du und Alex, ihr habt offensichtlich sehr gut zusammengepasst. Aber Alex und Alan – das sind zwei Menschen, wie sie unähnlicher nicht sein können!« Rachel fuhr sich mit den Händen durch das honigblonde Haar.
»Warum ich Alan geheiratet habe? Vielleicht, weil meine Familie so dagegen war! Ich war noch sehr jung, eben erst neunzehn! In diesem Alter ist man von Natur aus rebellisch!« Sie zögerte.
»Außerdem hat meine Familie nicht mit ihrer Meinung hinter dem Berg gehalten, dass ich nicht genug Stehvermögen besäße. Ich wollte ihnen das Gegenteil beweisen. Versteh mich nicht falsch! Ich hielt Alan für wundervoll! Er war anders. Ich hatte noch nie jemanden wie ihn kennen gelernt. All meine Freunde vor ihm waren irgendwie gleich. ›Schickimickis‹, nannte mein Vater sie. Sie waren lustig, sicher, aber keiner von ihnen hatte ein richtiges Ziel im Leben. Klar, alle wollten erfolgreich sein und eine Menge Geld machen, aber das war auch schon alles. Alan war anders. Er wollte etwas ganz anderes vom Leben. Er war älter als die anderen, und er war für Recht und Ordnung, Gerechtigkeit, dafür, sich um das Gemeinwohl zu sorgen und all das. Es kam mir damals so nobel vor!« Rachel seufzte.
»In Wirklichkeit war es stinklangweilig. Die Familie hatte Recht behalten. Ich war die völlig falsche Frau für ihn. Er hat zu den unmöglichsten Zeiten gearbeitet. Es war hoffnungslos. Ich konnte keine Dinnerpartys arrangieren oder irgendwelche Einladungen annehmen, weil ich nie wusste, ob er sie würde einhalten können. Er hat sich mit sehr merkwürdigen Leuten abgegeben, und er mochte meine Freundinnen nicht. Er hatte einen ganz anderen Sinn für Humor als sie. Er war mehrmals sehr grob zu ihnen, und wenn wir dann endlich miteinander Zeit verbringen konnten und er nicht arbeitete, wollte er nichts weiter als in seinem Garten graben!«
»In Ordnung, Ray.« Meredith musste gegen ihren Willen lächeln.
»Ich verstehe, was du meinst.«
»Trotzdem habe ich nie meine Zuneigung zu ihm verloren«, fuhr Rachel in ernstem Ton fort, während sie sich nach vorn beugte und eine Hand auf Merediths Arm legte.
»Ich habe Alan immer wahnsinnig gerne gemocht.« Die letzte Bemerkung war nicht dazu angetan, Meredith zu beruhigen.
Es war ein langer und ermüdender Tag gewesen. Meredith entschuldigte sich gleich nach dem Abendessen und ging nach oben auf ihr Zimmer. Sie zog die Vorhänge ein Stück zurück, um aus dem Fenster zu sehen.
Draußen herrschte noch Zwielicht, doch es versprach eine klare, helle Nacht zu werden. Der Mond zeigte sich bereits als blasse silberne Scheibe am wolkenlosen Abendhimmel. Meredith hatte das Licht im Zimmer nicht eingeschaltet, damit sie einen besseren Blick auf den Park werfen konnte.
Ihr Zimmer befand sich auf der Vorderseite des Hauses, und nichts verstellte ihr die Sicht hinunter auf die Auffahrt bis hin zum Tor. Sie bildete sich ein, sogar die Ananas auf den beiden Pfeilern zu erkennen. Die Vögel hatten aufgehört zu zwitschern und schliefen. Über allem lag eine fast erdrückende Stille, wie man sie nur auf dem Land erleben kann. Kein Verkehrslärm. Keine Lichter, bis auf ein paar vereinzelte erleuchtete Fenster zwischen den Bäumen zur Rechten, wahrscheinlich vom Hotel her.
Gerade als sie sich auf das Fenstersims lehnte, bemerkte sie am Tor eine Bewegung. Meredith runzelte die Stirn. Vielleicht war es nur der Wind in den Bäumen und den sie umgebenden Schatten gewesen. Doch nein, dort war es erneut.
Ein Schatten löste sich vom Pfeiler und bewegte sich auf die Auffahrt hinaus. Es war eine Frau. Sie blieb stehen und blickte zum Haus. Soweit Meredith feststellen konnte, trug sie einen langen dunklen Mantel. Am Hals schimmerte etwas Weißes, das von einer Bluse herrühren mochte. Die Frau besaß dichtes, langes dunkles Haar, doch das schlechte Licht machte es unmöglich, Einzelheiten ihres Gesichts zu erkennen.
Meredith hielt den Atem an und rührte sich nicht, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Die Frau bewegte sich ein wenig weiter die Auffahrt hinauf, als wollte sie das Haus genauer in Augenschein nehmen. Dann wandte sie sich ab, marschierte zwischen den beiden Torpfosten hindurch und verschwand außer Sicht. Offensichtlich war sie hinaus auf die schmale Straße gegangen, die hinunter in die Ortschaft führte.
Meredith biss sich nachdenklich auf die Lippe. Die weibliche Journalistin vielleicht, von der Rachel gesprochen hatte? Nachdem sie kein Interview bekommen und von Martin des Grundstücks verwiesen worden war, hatte sie vielleicht beschlossen, zu einem Zeitpunkt hierher zurückzukehren, an dem sie nicht so leicht zu sehen war. Doch was sie auf diese Weise erreichen wollte, war nicht leicht zu erraten. Meredith hatte keine Kamera erkennen können. Außerdem war es zu dunkel für alles außer Blitzlicht, und das war sicher nicht, was die Presse wollte. Die wollten ins Haus. Ein bestürzender Gedanke, dass die Journalistin zurückgekehrt sein könnte. Sie war auf jeden Fall jemand, vor dem man sich in Acht nehmen musste; Meredith musste Rachel unbedingt warnen, gleich am nächsten Morgen, damit diese auf der Hut sein würde.
Natürlich musste es nicht die Journalistin gewesen sein. Vielleicht war es nur ein abendlicher Spaziergänger gewesen? Jemand aus dem Hotel? Malefis Abbey war ein ungewöhnliches Haus, das die Aufmerksamkeit Fremder anzog.
Meredith schloss das Fenster und zog die Vorhänge zu. Morgen war erst Samstag, und Alan würde nicht vor Sonntagmittag eintreffen.
»Hoffentlich ist es bald so weit!«, murmelte sie vor sich hin, als sie ins Bett stieg, um kurze Zeit später in Schlaf zu sinken.
Molly James konnte nicht einschlafen. Sie schlief niemals gut, schon seit Jahren nicht mehr, nicht seit ihre Ehe gescheitert war. Der Schlafmangel war nicht Folge des Kummers, einen Ehemann verloren zu haben, den sie längst nicht mehr geliebt hatte, sondern einfach das Resultat der langen Stunden voll mühseliger Arbeit, die nötig gewesen war, um ihr Kind aufziehen und den Lebensunterhalt verdienen zu können. Die Tierpension aufzubauen war sehr mühselig gewesen, und damals hatte es keine Gillian gegeben, die ihr dabei geholfen hatte. Molly hatte alles ganz allein schaffen müssen.
»Jede verdammte Kleinigkeit«, murmelte sie in der Dunkelheit zu sich selbst.
»Aufgestanden beim ersten Hahnenschrei, säubern, füttern, ausführen. Nie vor Mitternacht ins Bett, nachdem aller Schreibkram erledigt war. Ich weiß überhaupt nicht, wie ich das geschafft habe. Schätze, wenn einem der Teufel im Nacken sitzt, bringt man so einiges zu Stande.«
In jenen weit zurückliegenden Tagen – wie es ihr heute erschien – war sie oft so weit gewesen, vor Müdigkeit alles hinzuwerfen. Doch nach und nach hatte sich ihre Physis angepasst, sie war stärker geworden, und das Bedürfnis nach langen Stunden Schlafs hatte sich verloren. Sie hatte sich an ihren spartanischen Lebensstil gewöhnt und an die harte körperliche Disziplin, die ihr Tag für Tag abverlangt wurde.
Doch wenn sie dann endlich einmal schlief, dann für gewöhnlich wie ein Stein. In letzter Zeit allerdings lag sie des Nachts häufig wach, ruhelos, auch wenn sie den ganzen Tag lang hart gearbeitet hatte. Ihre Glieder schmerzten, doch ihr Kopf brummte vor Aktivität, während sie sich mit ihren Problemen herumschlug. Hauptsächlich war da ein besonderes Problem: das Nevilund-Rachel-Problem. Die schlimmsten Nächte, wenn sie gerade erst vor Einbruch der Morgendämmerung Schlaf fand, folgten stets auf Auseinandersetzungen mit ihrem Sohn. Und an jenem Abend hatten sie einen besonders heftigen Zusammenprall gehabt und sich über den Tisch hinweg angeschrien. Nevil war am Nachmittag früher als sonst aus Malefis Abbey zurückgekehrt, schlecht gelaunt, wortkarg und finster. Ihre ersten Versuche, ihn zu fragen, was geschehen war, hatten dazu geführt, dass er ihr fast den Kopf abgerissen hätte. Später am Abend dann war der Grund ans Licht gekommen. Rachel hatte einen Gast im Haus. Eine alte Schulfreundin, hatte sie Nevil gesagt. Molly hatte nicht begriffen, was denn daran so schlimm sein sollte, und ihn angebrüllt:
»Was zur Hölle spielt das schon für eine Rolle? Damit hättest du rechnen können! Menschen kommen zu Besuch, wenn jemand gestorben ist. Darunter auch Leute, die man seit Jahren nicht gesehen hat! Sie bleiben nicht für immer. Sie hängen einige Zeit herum und bieten ihre Hilfe und Unterstützung an, doch dann verschwinden sie wieder dahin, wo sie hergekommen sind! Das Leben geht schließlich irgendwann weiter!« Die Antwort hatte Nevil noch mehr aufgebracht.
»Du verstehst das nicht, Ma! Es spielt überhaupt keine Rolle, wer es ist! Rachel braucht diese Freundin nicht! Sie hat mich! Ich kann ihr helfen. Aber wie soll ich zu ihr gehen, während diese andere Frau bei ihr herumsitzt und mich anstarrt?!« Der Gedanke, dass Nevils Besuche in Malefis Abbey dadurch eine Einschränkung erfahren sollten, war Molly als außerordentlich begrüßenswert erschienen, und sie hatte ihre Befriedigung darüber nicht verbergen können. Und das hatte Nevil den Rest gegeben.
»Nur zu, freu dich drüber!«, hatte Nevil gebrüllt und war aus dem Zimmer gestürmt. Das war nach dem Abendessen gewesen, gegen Viertel vor neun abends. Er war nicht zurückgekommen. Molly hatte so lange wie möglich in der Küche gekramt, Geschirr abgewaschen und weit gründlicher sauber gemacht, als sie es für gewöhnlich tat. Von Zeit zu Zeit war sie zur Tür gegangen und hatte in die Nacht gespäht, als könnte sie Nevil wieder heraufbeschwören. Doch das mondbeschienene Land hatte verlassen und leer dagelegen, still, bis auf das Rascheln der Bäume und ein gelegentliches Bellen aus den Zwingern. Gegen zehn war sie mit einer Taschenlampe nach draußen gegangen, um nachzusehen, ob bei den Tieren alles in Ordnung war, dann hatte sie sich auf den schmalen, von Bäumen gesäumten Weg nach Malefis Abbey gemacht. Sie hatte den Strahl ihrer Lampe von einer Seite zur anderen geschwenkt, doch außer dem bleichen Muster verdrehter Zweige und Äste und gelegentlich einem aufgeschreckten Vogel, der schlaftrunken davongeflattert war, hatte sie kein lebendes Wesen gesehen. Die Einsamkeit während dieses nächtlichen Spaziergangs im blassen Mondlicht, die tiefen Schatten der Bäume und die raschelnden Geräusche der Nacht hatten ihr Gefühl von Niedergeschlagenheit noch verstärkt. Doch erst als sie wieder zu Hause gewesen war, hatte sie einen ersten Anflug von Angst verspürt. Was, wenn er nicht wieder zurückkam? Das war ihre größte Sorge, ein Gedanke, der ständig in ihrem Hinterkopf lauerte. Angenommen, eines Tages kam es zu einer wirklich ernsthaften Auseinandersetzung zwischen ihnen, und er packte seine Sachen und verschwand auf Nimmerwiedersehen? Doch es war kein so schlimmer Streit gewesen, tröstete sie sich. Ein heftiger Streit, aber nicht so schlimm. Nicht die Sorte Auseinandersetzung, die dauerhaft eine Kluft zwischen zwei Menschen aufreißen konnte und dazu führte, dass einer ging. Außerdem hatte er seine Sachen nicht mitgenommen. Nur, dass Menschen nicht immer nach heftigen Auseinandersetzungen gingen. Manchmal reichte schon eine unbedeutende Meinungsverschiedenheit über irgendeine triviale Sache, um das Fass endgültig zum Überlaufen zu bringen. Ihre Ehe hatte auf diese Weise geendet. All die schweren Kämpfe hatten hinter ihnen gelegen. Sie und ihr Mann hatten nicht mehr gestritten. Sie hatten einander nur noch mit gemeinen Bemerkungen bedacht oder in erstarrtem Schweigen dagesessen. Dann, eines Tages, am Ende einer Woche ohne besondere Meinungsverschiedenheit, war er nach Hause gekommen und hatte ihr eröffnet, dass es
»jemand anderen« gab. Er war mit zwei Koffern und einem Aquarell mit dem Titel
»Fischerboote in einem cornischen Hafen« ausgezogen. Er hatte sich damals das Bild gekauft, und ihr hatte es nie gefallen. Jetzt sah sie ihn vor sich, vor ihrem geistigen Auge, sah ihn mit einem Koffer in jeder Hand und dem Bild unter dem Arm zu seinem Wagen gehen. Sie hatte nicht gefleht, nicht geweint, war nicht wütend gewesen. Sie hatte ihm einfach nur zugesehen und war dann nach drinnen gegangen, um dem Baby Nevil seinen Tee zu machen. Es hatte ein wenig gequäkt, denn es hatte gespürt, dass etwas nicht stimmte. Molly hatte den ganzen Abend lang mit dem Baby im Arm dagesessen und gewusst, dass Nevil von diesem Tag an alles sein würde, was sie jemals haben würde. Bis zu jenem fernen Tag in weiter Zukunft, an dem er sie ebenfalls verlassen würde. In dieser Nacht jedoch, allein im Haus und ohne Nevil, hatte sie bis Mitternacht vor dem Fernseher gesessen. Es lief eine Diskussion über ein Thema, das sie nicht interessierte und ihr von untergeordneter Bedeutung erschien, gefolgt von einem gleichermaßen langweiligen Film. Die ganze Zeit über lauschte sie auf seine Schritte, auf das Klicken der Küchentür. Schließlich hatte sie zwei relativ große Gläser Whiskey gekippt und war zu Bett gegangen, hauptsächlich deswegen, weil sie fürchtete, dass Nevil, wenn er nach Hause kam und sie auf ihn wartend vorfand, erneut wütend werden und sie beschuldigen könnte, ihn wie ein Kind zu behandeln. Molly warf sich ruhelos in ihrem Bett hin und her.
»Wo um alles in der Welt treibt sich der kleine Lümmel wieder herum?«, fragte sie laut in die Stille hinein und klopfte ärgerlich ihr Kissen auf.
»Wohin kann er gegangen sein? Selbst dieses Pub unten in Church Lynstone hat inzwischen geschlossen!« Genauso wenig konnte er bei ihr, bei dieser Rachel, sein, denn Rachel hatte einen Hausgast. Also wo? Und mit wem? Wenn ich morgen Früh aufstehe, sagte sie sich, ist er bestimmt zu Hause. Wir frühstücken zusammen, und was immer auch geschieht, ich darf ihn auf keinen Fall – unter gar keinen Umständen! – fragen, wo er gewesen ist oder warum er so spät nach Hause gekommen ist. Ich muss die Tatsache respektieren, dass er ein erwachsener Mann ist! Doch es fiel ihr schwer, sich Nevil als erwachsenen Mann vorzustellen. Sie hatte ihn nie als Mann gesehen und würde ihn nie so sehen. Er war einfach nur Nevil … und er verhielt sich äußerst rücksichtslos! Auf der Stelle vergaß Mrs. James all ihre guten Vorsätze.
»Warte nur, bis du nach Hause kommst!«, versprach sie ihm rachsüchtig in die Dunkelheit des Schlafzimmers hinein.
»Die Polizei aus London kommt hierher«, sagte Nevil.
»Na und?« Die sorglose, leise Antwort klang ein wenig ver zerrt, weil die Sprecherin sich vor den Spiegel lehnte und ihre Lippen sorgfältig nachzog.
»Sie … ich weiß nicht. Sie wird überall herumschnüffeln.«
»Dann lass sie doch. Du hast nichts zu befürchten.«
»Vielleicht hört sie das Geschwätz der Leute … über Rachel und … und mich.«
»Du hättest dich nicht selbst in eine so dumme Lage manövrieren sollen, hab ich nicht Recht?«
»Hör mal!«, flehte Nevil.
»Ich dachte, du könntest mir helfen! Ich hatte bereits einen hässlichen Streit mit meiner Mutter. Sie versteht mich nicht, und ich kann es ihr einfach nicht er klären! Nichts läuft so, wie es soll, jedenfalls nicht für mich!« Ein Seufzen.
»Ist es das, weswegen du hergekommen bist? Um mir das zu erzählen? Nur um über etwas zu reden, das noch gar nicht passiert ist und wahrscheinlich niemals passieren wird? Sie wird der Polizei nichts von dir erzählen. Sie will doch die tugendhafte Witwe sein. Was das Geschwätz der Leute angeht, so musst du nichts weiter tun, als alles abzustreiten. Fertig.« Die Antwort war höchst unbefriedigend für Nevil, der das Kinn in die Hände sinken ließ und leise murmelte:
»Es ist nicht nur das! Es ist einfach alles! Ich dachte, nachdem er tot ist … na ja, er ist eben tot, und ich dachte, sie wäre froh über meine Hilfe und Unterstützung. Aber sie scheint mich nur zu brauchen, damit ich nach diesen Kanarienvögeln von Alex sehe! Ich dachte, vielleicht hast du eine Idee, was ich tun kann.«
»Du weißt selbst sehr genau, was du tun solltest. Du machst es nur nicht. Was würde es nützen, wenn ich es wiederhole?«, kam ihre ärgerliche Antwort.
»Ich liebe Rachel nun einmal!«
»Nein, tust du nicht!« Seine Gesprächspartnerin wandte sich vom Spiegel ab.
»Gib mir ein Tuch. Sie ist lediglich die einzige gut aussehende Frau, die du kennst. Das heißt …«
»Schon gut«, sagte Nevil mit müdem Lächeln, als er ihr die Kleenexschachtel reichte.
»Anwesende selbstverständlich ausgenommen.«
»Weißt du …« Das lippenstiftbefleckte Kleenex segelte in den Papierkorb. Röckerascheln, und sie setzte sich zu ihm auf das Bett. Ein schwacher Hauch von Parfüm erfüllte die Luft.
»Ich könnte es beweisen. Ich könnte dafür sorgen, dass du Ra chel Constantine innerhalb von zehn Minuten völlig vergisst!« Nevil wandte das Gesicht ab.
»Ich will Rachel aber nicht vergessen!«
»Siehst du? Es sitzt in deinem Kopf fest. Aber das ist auch schon alles, Nevil, mein Lieber. Ein Gedanke in deinem Kopf. Eine fixe Idee. Irgendwann wird dein Interesse an ihr nachlassen und schließlich ganz verschwinden, glaub mir.« Eine Hand legte sich mit sanftem Druck auf seine.
»Glaub mir.« Nevils Kopf fuhr herum.
»Weißt du, auf deine eigene Weise bist du genauso schlimm wie Ma! Du willst mir nicht zuhören, du willst nicht verstehen, wie sehr ich Rachel brauche! Du sagst immer nur … wohin gehst du?« Die Wut schwand aus seiner Stimme, die dafür erneut in alarmierende Höhen stieg und ihn wieder verletzlich klingen ließ.
»Nach draußen!« Seine Bekanntschaft hatte sich vom Bett erhoben und die Zimmertür erreicht.
»Nein, bitte! Bleib hier! Es tut mir Leid! Du weißt, dass ich dich nicht …«
»Warum sollte ich bleiben und dir beim Jammern über eine Situation zuhören, in die du dich selbst hineinmanövriert hast? Es ist schließlich nicht meine Schuld, wenn du dich mit deiner Mutter gestritten hast!«
»Aber wenn du weggehst, was ist dann mit mir? Was soll ich tun?«
»Du kannst meinetwegen hier bleiben und fernsehen. Was du willst. Hör mal, ich werde nicht lange weg sein. Ich mache nur einen kleinen Spaziergang. Ich will ein wenig an die frische Luft.«
»Ich wünschte, du würdest bleiben!«, sprudelte Nevil hervor.
»Du solltest nachts nicht durch die Gegend spazieren. Es ist viel zu gefährlich!«
»Gefährlich?« Ein raues Kichern.
»Weißt du, was dein Problem ist, Nevil? Du hast vor allem Schiss, und trotzdem willst du alles haben. Du musst aufhören, dir andauernd in die Hosen zu machen. Du musst anfangen, das Risiko, die Gefahr, sogar die Angst zu lieben! Genieße sie, lass dich nicht von ihnen auffressen!« Die Sprecherin brach ab, benetzte die blutroten Lippen und fuhr fort:
»Was ich sagen will: Du hast die Wahl! Du weißt doch, was für eine Wahl das ist, oder?« Die Tür fiel leise ins Schloss. Allein saß Nevil eine Weile im Halbdunkel. Dann stand er auf und ging ins Nachbarzimmer, wo der Fernseher lautlos vor sich hin flackerte, weil sie vorhin den Ton abgestellt hatte. Er stellt den Ton wieder ein – zu laut, und die Flimmerkiste plärrte ihn an. Er warf sich in einen Sessel. Es würde eine Szene geben, wenn er wieder zu Hause war. Wenn nicht heute Nacht, dann morgen Früh. Wahrscheinlich schon heute Nacht. Er würde sich ins Haus schleichen, doch Mutters Stimme würde die Luft immer noch durchdringen wie ein Speer.
»Wo bist du gewesen?« Sie würde wütend sein, verbittert und ungerecht. Schlimmer noch, sie würde alt und wehrlos klingen. Leise vor sich hin murmelnd bastelte Nevil eine schöne, würdevolle Rede zusammen, in der er sein Recht auf sein eigenes Leben und seine Privatsphäre verteidigte. Doch er wusste ganz genau, dass er sie niemals halten würde, und so verstummte er nach einer Weile und starrte schweigend auf die grellen, bunten Bilder, die über die Mattscheibe flimmerten, während er nervös auf den Fingernägeln kaute und den gefürchteten Augenblick vor sich herschob, an dem er wieder nach Hause musste.
KAPITEL 9
Trotz allem schlief Meredith tief und fest. Am Morgen, als sie erwachte, schien die Sonne hell von einem strahlend blauen Himmel herab. Mit dem freundlichen, hellen Tag kehrte auch der Optimismus zurück. Es war Samstag. Alan würde am nächsten Tag kommen. Der Dienstag, an dem Alex beerdigt werden sollte, schien noch weit entfernt. Warum also sich bereits jetzt deswegen den Kopf zerbrechen?
»Ich fahre nachher in die Stadt«, verkündete Rachel, während sie mit einem Löffel Müsli in ihre Milch drückte und angewidert den auf diese Weise entstandenen kalten Brei betrachtete.
»Möchtest du vielleicht mitkommen?« Ohne auf Merediths Antwort zu warten, fuhr sie fort:
»Ich weiß nicht, wie es mit dir steht, aber als ich noch ein Kind war, wurde mir immer eingetrichtert, wie wichtig doch ein vernünftiges Frühstück sei. Jetzt habe ich mich so daran gewöhnt, dass ich gar nicht mehr anders kann. Ich muss mich jeden Morgen hinsetzen und dieses Zeug hinunterzwingen. Es sieht aus wie dieser Kram, den die Leute ihren Hauskaninchen zum Fressen geben.« Sie schob die Schale mit dem Müsli von sich.
»Ich bleibe hier, wenn es dir nichts ausmacht«, antwortete Meredith.
»Ich werde ein wenig durch Lynstone spazieren.«
»Hier gibt es nicht viel zu spazieren. Ich werde zum Mittagessen wahrscheinlich noch nicht zurück sein, aber Mrs. Pascoe wird dich bekochen.«
»Lass nur, keine besonderen Umstände«, sagte Meredith rasch.
»Ich nehme eine Kleinigkeit im Hotel zu mir. Ich glaube, dort gibt es kleine Imbisse.« Die Dinge entwickelten sich an diesem Morgen wirklich zum Besseren. Sie hatte sich gefragt, wie sie zum Hotel zurückkehren und mit Mavis Tyrrell reden sollte, ohne dass Rachel davon etwas mitbekam. Eine Sache nagte jedoch immer noch an ihr.
»Ich will dich nicht verängstigen, Rachel, aber ich sollte vielleicht erwähnen, dass ich gestern Abend jemanden von meinem Schlafzimmerfenster aus gesehen habe. Eine Frau. Sie hat zum Haus gestarrt. Es war schon zu dunkel, um sie noch genau zu erkennen, aber ich habe einen ziemlichen Schrecken bekommen.« Rachel runzelte die Stirn.
»Ein unbefugter Eindringling auf dem Grundstück?«
»Nur ein kurzes Stück hinter dem Tor. Sie ging auf das Haus zu, doch dann wandte sie sich wieder um, als hätte sie es sich anders überlegt. Ich dachte, es könnte vielleicht die Journalistin gewesen sein, von der du mir erzählt hast. Möglicherweise ist sie zurückgekommen, um es noch einmal zu versuchen. Du solltest besser die Augen aufhalten, Rachel. Ich werde es jedenfalls tun.« Rachel lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare.
»Zum Teufel! Ich werde Martin sagen, dass er den ganzen Park im Auge behalten und die Polizei rufen soll, wenn irgendein elender Reporter sich auf das Grundstück wagt! Die Polizei belästigt mich schließlich auch! Wenn das so weitergeht, beauftrage ich vielleicht irgendeinen privaten Sicherheitsdienst und lasse mir einen Mann mit einem Hund kommen!« Ihr Blick hellte sich unvermittelt auf.
»Aber ich hab ja ganz vergessen, dass Alan kommt! Er wird jeden Eindringling verscheuchen! Wie gut, dass er herkommt!« Meredith fing an zu bedauern, dass sie Alan sosehr ermutigt hatte, im Hotel zu bleiben, wenn er von Rachel als ihr persönlicher Wachhund missbraucht werden sollte. Sie unternahm einen Versuch, den Zwischenfall herunterzuspielen.
»Vielleicht war es auch keine Journalistin. Vielleicht war es eine Einheimische auf einem abendlichen Spaziergang, die sich das Haus ansehen wollte. Sie trug einen langen Mantel, war stämmig gebaut und hatte langes dunkles Haar. Kannst du damit etwas anfangen?« Rachel zuckte die Schultern.
»Nein. Die Journalistin hatte wasserstoffblondes Haar, ziemlich schlecht geschnitten, wenn du mich fragst, und einen schmuddeligen Mantel. Könnte es sich um jemand anderen handeln, von einer anderen Zeitung? Oh, warte, es kann natürlich auch Miriam Troughton gewesen sein. Sie geht manchmal spätabends noch spazieren. Sie trinkt zu viel, wenn du mich fragst, und geht an die frische Luft, um wieder nüchtern zu werden, damit Jerry nichts davon merkt. Sie ist irgendwie unheimlich. Wenn du meine Meinung hören möchtest, mach es wie ich und geh ihr aus dem Weg.«
»Troughton? Ist das der Hotelbesitzer?«
»Ganz genau. Er hat Miriam irgendwo im Ausland aufgegabelt und sie nach Lynstone mitgebracht. Sie ist ein wenig verrückt. Ich meine nicht geistig zurückgeblieben, ich meine eigenartig. Sie ist recht intelligent und spricht sehr gut Englisch. Aber sie verschwindet immer wieder für ein paar Wochen, und niemand bekommt sie in dieser Zeit zu Gesicht. Wenn sie zurückkommt, sieht sie jedes Mal aus, als hätte sie die ganze Zeit herumgesumpft. Und jedes Mal, wenn sie weg ist, hofft Troughton, dass sie nicht mehr zurückkommt!« Rachel grinste verschmitzt.
»Aber sie kommt immer wieder zurück! Sein größter Wunsch ist, dass sie mit einem anderen Mann durchbrennt! Aber kein anderer Mann will sie haben. Sie hatte ein Auge auf Alex geworfen, als wir hergezogen sind – natürlich ohne jeden Erfolg, wie ich hinzufügen möchte.« Diese Information war merkwürdig beruhigend für Meredith. Es war gut, einen Namen und eine Geschichte mit der Gestalt in Verbindung bringen zu können, die sich am Vorabend in der Grundstücksauffahrt herumgetrieben hatte. Es vertrieb die Unruhe, die seit jenem Augenblick an ihr genagt hatte.
»Wo wir gerade von Geschichte reden«, sagte sie, »wer hat eigentlich dieses Haus gebaut?« Sie deutete auf die Wände ringsum.
»Oh, das war ein Mitglied der Familie Morrow. Ihnen hat Lynstone House gehört, als es noch ein richtiges Heim für eine Familie war. Wenn du ins Hotel kommst, sprich doch einmal mit Mavis Tyrrell darüber. Sie kann dir alles viel besser erzählen als ich. Ihr verstorbener Mann war ein Amateurhistoriker und hat sich mit einheimischer Geschichte befasst. Sie weiß alle möglichen Dinge über unsere Gegend.« Rachel stand auf.
»Und du bist sicher, dass du nicht mit in die Stadt willst? Ich warne dich, eine halbe Stunde lang Mavis’ Geschichten über das alte Lynstone, und du rennst schreiend davon! Oh, und wenn du vor dem Mittagessen noch einen Sherry möchtest, dann trink ihn hier. Mein Sherry kommt wenigstens aus Spanien. Gott allein weiß, woher Jerry Troughton seinen bezieht. Er schmeckt, als wäre er in einem Eimer gemacht.« Es war zu früh, um schon hinunter ins Hotel zu gehen, also ging Meredith nach Rachels Abfahrt erst einmal nach draußen, um den weitläufigen Park von Malefis Abbey zu erkunden. Er war in der Tat wunderschön und gepflegt. Martin musste sehr hart arbeiten, falls er keine Hilfe hatte. Und er verstand eine Menge von seiner Arbeit, so viel stand fest. In diesem Augenblick vernahm sie die Stimme des Gärtners und sein Lachen. Sie umrundete eine Ansammlung von Büschen und traf auf den jungen Mann selbst, der neben seiner Schubkarre im Gras saß und lebhaft in ein Mobiltelefon sprach. Als er Meredith bemerkte, beendete er hastig sein Gespräch und sprang auf, um sie zu begrüßen.
»Guten Morgen, Miss Mitchell!« Er lächelte, schob die Antenne zurück und steckte das Mobiltelefon in seine Jackentasche.
»Guten Morgen, Martin. Entschuldigen Sie, wenn ich Sie gestört habe.« Er winkte ab.
»Es war nichts Wichtiges. Ich habe eine kleine Pause gemacht, so sagt man doch, oder?«
»Ja, und ich bin sicher, Sie haben sie verdient! Ich habe Ihre Kunstfertigkeit bewundert! Der Park ist einfach fantastisch! Morgen Mittag wird jemand zum Essen kommen, der Ihre Arbeit noch sehr viel mehr zu schätzen weiß als ich.« Alan Markby wird sich nicht nur freuen, über diesen riesigen, wunderschönen Garten, er wird vor Neid ganz grün werden, dachte sie. Martin lächelte glücklich über ihr Lob.
»Ich studiere Gartenbau, wissen Sie? Ich war in Frankreich auf dem College und habe ein Diplom. Ich wollte mein Englisch verbessern und ein wenig Erfahrung mit der Gärtnerei sammeln, deswegen bin ich für ein Jahr hergekommen. Ich habe in einer Lokalzeitung gelesen, dass Mr. und Mrs. Constantine eine Hilfe für ihren großen Garten gesucht haben. Ich denke, sie wollten eigentlich nur jemanden, der ein paar Stunden in der Woche hier arbeitet. Aber ich habe ihnen geschrieben und erklärt, was ich mache, und sie haben mir eine Vollzeitanstellung gegeben. Mr. Constantine war das. Er war immer sehr freundlich zu mir.« Martins dunkle Augen wirkten kummervoll.
»Es hat mir sehr Leid getan, als er starb.« Noch jemand, der Mitglied gewesen ist im Alex Constantine Fanclub, dachte Meredith. Gibt es denn überhaupt jemanden, der ihn nicht gemocht hat? Ist er nie jemandem auf die Zehen getreten? Gab es niemals die leiseste Meinungsverschiedenheit wegen eines Parkplatzes oder Lärm in der Nachbarschaft oder den sonstigen üblichen Querelen zwischen Nachbarn? Vielleicht gerade hier nicht. Malefis Abbey lag viel zu weit von den Nachbarn entfernt, als dass es zu derartigen Ärgernissen gekommen wäre. Sie sah Martin genauer an. Er war ein gut aussehender junger Mann, mit ovalem Gesicht und olivfarbener Haut, glänzenden braunen Augen und einem kleinen Mund mit vollen Lippen. Es war die Sorte Gesicht, die einem aus alten Kirchenfresken entgegenblickte, und es unterschied sich ganz gewiss von allen anderen in dieser Gegend. Kaum verwunderlich, dass das junge Mädchen im Mini-Mart von ihm beeindruckt war.
»Hier in Lynstone gibt es doch sicher nicht viel, das man unternehmen könnte«, sagte Meredith.
»Oder in Church Lynstone. Ich war gestern dort.« Martin lächelte schüchtern.
»Ich bin nicht alleine. Ich bin mit jemandem zusammen.« Das Mädchen aus dem Mini-Mart wahrscheinlich, dachte Meredith. Die Jugend findet stets einen Weg. Ihr wurde bewusst, dass sie Martin ruhig ein wenig mehr Unternehmungslust hätte zutrauen können.
»Richtig. Oh, hat Mrs. Constantine erwähnt, dass die Journalisten es möglicherweise noch einmal versuchen werden?«
»Ja, Mademoiselle. Ich werde nach ihnen Ausschau halten.« Sie verabschiedeten sich freundlich, und Meredith warf einen Blick auf die Uhr. Zeit für eine Kaffeepause. Noch immer ein wenig zu früh, um über das Hotel herzufallen, aber vielleicht eine gute Zeit, um der Tierpension einen Besuch abzustatten.
Als Meredith sich dem Tor von Lynstone Kennels and Cattery näherte, stellte sie fest, dass das Schicksal ihr an jenem Morgen weiterhin günstig gesinnt war. Denn Mrs. James kam von der anderen Seite her auf das Tor zu, gezogen von drei Hunden verschiedener Rassen.
»Ich habe die Tiere ausgeführt!«, verkündete sie atemlos, als sie bei Meredith angekommen war. Die Hunde versammelten sich vor Meredith und starrten erwartungsvoll zu ihr hinauf. Ihr vereinter Blick war entnervend, nicht zuletzt, weil er aus verschiedenen Höhen kam. Der größte Hund war diesmal ein erst kürzlich eingetroffener Retriever, der kleinste der immer noch verstimmte Corgi. Er knallte sich auf seinen dicken Bauch und streckte die hechelnde Zunge so unmöglich weit heraus, dass es aussah, als könnte sie jeden Augenblick ganz herausfallen.
»Der arme kleine Kerl«, sagte Mrs. James und deutete mit der Fußspitze auf den Corgi.
»Er ist nicht an lange Spaziergänge gewöhnt. Er wird in einer Wohnung gehalten und kommt kaum jemals vor die Tür. Bis er wieder nach Hause kommt, haben wir ihn schlank und rank und fit, aber sie wird all die gute Arbeit zunichte machen.«
»Sie« war wahrscheinlich die Besitzerin des Hundes.
»Ich spaziere ein wenig durch die Gegend«, sagte Meredith.
»Hätte ich das früher gewusst, hätte ich die Hunde für Sie ausführen können!« Mrs. James wusste Merediths Angebot eindeutig zu schätzen.
»Kommen Sie ruhig mal vorbei, wenn Sie nichts mit sich anzufangen wissen! Wir können immer ein paar helfende Hände gebrauchen! Möchten Sie jetzt vielleicht eine Tasse Kaffee?«
Der Kaffee wurde in einem Sortiment verschiedener Becher am Küchentisch serviert. Das gesamte Personal der Tierpension fand sich zur Frühstückspause ein. Neben Mrs. James selbst waren das Nevil sowie ein großes, unattraktives Mädchen, das Meredith als Gillian Hardy vorgestellt wurde.
Nevil wirkte ein wenig nervös, als er Meredith wiedersah, und bedachte sie mit einem flehenden Blick. Sie verstand es als eine Bitte, Rachel nicht zu erwähnen.
Das Mädchen Gillian saß mit nach vorne gezogenen Schultern über seinem Kaffee und kaute auf einer Strähne glatten, mattbraunen Haares, während sie den Besuch böse anstarrte. Meredith fragte sich besorgt, ob sie unbeabsichtigt etwas getan hatte, das Gillian gegen sie aufbrachte. Ihre Blicke wurden unwillkürlich von Gillians großen roten Händen angezogen. Traurigerweise hatte Rachel mit ihrer verächtlichen Beurteilung von Gillians äußerem Erscheinungsbild durch und durch Recht. Sie schien nicht den kleinsten Versuch unternommen zu haben, etwas an diesem Zustand zu ändern. Meredith vermutete, dass Gillian schon früh jedes Vertrauen in das eigene Aussehen verloren hatte und sich starrköpfig weigerte, auch nur einen Versuch zu unternehmen, etwas daran zu verbessern. Perverserweise ging diese Eigenschaft häufig mit dem unterdrückten, nichtsdestotrotz leidenschaftlichen Wunsch einher, geliebt zu werden. Vielleicht von Nevil?, fragte sich Meredith beiläufig.
Die Konversation versprach schwierig zu werden, doch Mrs. James setzte sich über das Unbehagen ihres Sohnes hinweg und fragte unverblümt:
»Und? Wie sieht es oben in Malefis Abbey aus?«
»Wie zu erwarten«, antwortete Meredith und mied Nevils gequälten Blick.
»Dann kommt sie zurecht?« Mrs. James beugte sich interessiert vor.
»Ja, relativ gut, danke.«
»Siehst du?« Mrs. James wandte sich triumphierend ihrem Sohn zu.
»Siehst du? Sie kommt blendend ohne dich aus! Du musst nicht alle fünf Minuten zu ihr rennen! Außerdem hat sie – wie war noch gleich Ihr Name? Meredith, nicht wahr? Sie hat außerdem noch Meredith bei sich.« Nevil war hochrot angelaufen, entweder vor Verlegenheit oder vor Zorn oder vielleicht auch beidem. Gillian hatte den Kopf gehoben wie ein wachsamer Vorstehhund und lauschte aufmerksam.
»Morgen kommt sogar weiterer Besuch«, sagte Meredith, obwohl sie den Verdacht hegte, die Dinge dadurch noch schlimmer zu machen. Doch sie konnten es ruhig schon jetzt erfahren und sich an den Gedanken gewöhnen.
»Er wird allerdings nicht im Haus wohnen, sondern im Hotel.« Ihre Information kam zu spät.
»Mavis hat es mir schon gesagt«, berichtete Mrs. James.
»Ein Mr. Markby, nicht wahr? Er ist ebenfalls Polizist, wie ich gehört habe.« Rachel hatte Meredith gewarnt. In Lynstone geschah nichts, ohne dass Molly James und Mavis Tyrrell davon wussten. Mavis Tyrrell hatte im Lynstone House Hotel eine strategisch ganz besonders günstige Position, um Informationen zu sammeln.
»Ja. Aber er kommt nicht her, um den Mord an Mr. Constantine zu untersuchen.«
»Warum kommt er dann?« Meredith bemerkte, dass alle drei sie erwartungsvoll ansahen, wie kurze Zeit zuvor die Hunde. Sie stockte.
»Er ist ein Freund von mir.« Nevil schien sich zu entspannen. Gillian erhob sich und sammelte die leeren Becher ein. Sie trottete zum Spülbecken und begann unter lautem Klappern, das Geschirr unter laufendem Wasser abzuwaschen. Mrs. James beugte sich erneut vor und musterte Meredith mit einem stechenden Blick.
»Wird sie Malefis Abbey verkaufen?«
»Verkaufen?«, fragte Meredith erstaunt.
»Sie hat nichts davon gesagt – sie hat sich noch nicht entschieden. Es ist noch zu früh. Ich denke, derart schwerwiegende Entscheidungen wird sie frühestens nach dem Begräbnis überdenken.«
»Dienstag, nicht wahr?« Auch darüber war Mrs. James bereits informiert.
»Der arme Kerl«, fügte sie schicklich hinzu.
»Keine schöne Art zu sterben, durch einen vergifteten Pfeil.«
»Es war genau genommen kein Pfeil.« Hastig fügte Meredith hinzu:
»Aber sicherlich kein schöner Tod. Ich war dabei!« Diese Aussage brachte die Luft zum Knistern. Gillian ließ einen Becher in das Spülbecken fallen, und er zerbrach klirrend. Sie wandte sich um und starrte Meredith mit wilden Augen an. Nevil öffnete und schloss den Mund, ohne eine Silbe hervorzubringen.
»Tatsächlich?«, sagte Mrs. James.
»Also das nenne ich eine Überraschung, wie sie im Buche steht! Wie wurde er denn ermordet?«
»Ich weiß es nicht genau. Die Polizei ermittelt immer noch.«
»Aber Sie müssen doch etwas gesehen haben!«, zweifelte Mrs. James.
»Ja, bestimmt!«, fügte Nevil hinzu und erwachte zu neuem Leben.
»Ich meine, nach allem, was wir gehört haben, waren ringsum Menschen!«
»Und genau darin liegt das Problem. Zu viele Menschen. Ich fürchte, wir haben überhaupt nichts gesehen. Genauso wenig, wie wir erkannt haben, dass es ihn so schlimm erwischt hat.« Schweigen breitete sich aus. Schließlich sagte Gillian:
»Ich hab Ihre Tasse kaputtgemacht, Molly.«
»Wirf sie weg«, sagte Mrs. James abwesend, ohne den Blick auch nur für eine Sekunde von Meredith zu nehmen. Dann riss sie sich zusammen und sagte:
»Ich muss die Katzen pudern gehen. Ich darf keine Flöhe in die Käfige kommen lassen. Diese Biester wird man nie wieder los. Ich sehe Sie dann irgendwann, Meredith. Manchmal gehe ich zum Hotel rauf, um vor dem Mittagessen einen Aperitif zu nehmen.« Meredith verließ die Tierpension in dem Gefühl, dass sie eine Verabredung mit Mrs. James hatte, und Mrs. James erwartete, dass Meredith diese Verabredung auch einhielt.
In der Hotelbar des Lynstone House herrschte nicht mehr Betriebsamkeit als bei Merediths vorangegangenem Besuch. Zwei ältere Gentlemen saßen schweigend in einer Ecke vor ihren Getränken. Sie erwiderten Merediths Gruß mit einem freundlichen Nicken. In einer anderen Ecke brütete ein junges Pärchen über einer Straßenkarte. Wahrscheinlich hatten sie sich im Gewirr der schmalen Straßen verfahren und waren hier gelandet, genau wie Meredith auch. Hinter der Bar beobachtete ein kleiner dicklicher Mann mit zurückweichendem Haaransatz und kleinen, runden, glitzernden Augen ihr Eintreten.
»Guten Tag!«, trällerte er. Es war gerade zehn nach zwölf.
»Mr. Troughton?«
»Höchstpersönlich!«, bestätigte er munter.
»Das ist ein kleiner Ort. Nachrichten verbreiten sich rasch. Niemand ist lange Zeit ein Fremder. Sie sind wohl die Dame, die bei Mrs. Constantine auf Malefis Abbey wohnt?«
»Ja.« Meredith erinnerte sich an Rachels wahrscheinlich ungerechte Warnung wegen des Sherrys, doch um ganz sicherzugehen, entschied sie sich für ein Glas Weißwein.
»Ich hoffe, ich kann hier zu Mittag essen? Sie bieten doch auch kleinere Mahlzeiten an, nicht wahr?«
Mr. Troughton deutete auf die schwarze Tafel neben dem Spiegel.
»Steht alles da drauf! Heute empfehlen wir Kalbsnieren-Pastete. Ich bin der Koch!«, fügte er selbstbewusst hinzu.
»Oh, prima. Dann möchte ich das und ein Glas Rotwein bitte.«
»Selbstverständlich! Hier, probieren Sie doch einmal diesen …« Mr. Troughton schenkte ihr ein großes Glas ein und schob es ihr hin.
»Ein sehr akzeptabler Tropfen, das. Eine großartige Entdeckung meinerseits.«
Der junge Mann mit der Straßenkarte kam zur Theke. Mr. Troughton zwinkerte Meredith freundlich zu und widmete sich seinem neuen Gast. Meredith nahm ihren Wein mit zu einem Sessel vor dem kalten Kamin, in dem ein Arrangement vergoldeter Tannenzapfen aufgebaut war, und schlug eine alte Ausgabe von Horse and Hound auf.
Schon nach wenigen Augenblicken materialisierte sich Mavis Tyrrell neben ihr. Sie hielt einen Stapel Aschenbecher in der Hand.
»Ich hab Ihnen einen frischen mitgebracht.«
»Oh, danke. Aber ich rauche nicht.«
»Macht nichts.« Mavis stellte einen großen Aschenbecher aus glasiertem Porzellan mit dem Namen einer Whiskeymarke neben ihr auf.
»Wie kommen Sie voran?« Worauf diese Frage zielte, war Meredith nicht ganz klar. War Mavis vielleicht auf irgendeine ihr selbst schleierhafte Art und Weise dahinter gekommen, was sie, Meredith, in Wahrheit vorhatte? Sicherlich nicht.
»Sehr gut, danke sehr. Äh, Mrs. Constantine ist nach Chipping Norton gefahren. Ich bin über Mittag allein, und da habe ich mir gedacht, ich komme zum Essen hierher.«
»Haben Sie schon bestellt?«
»Ich denke, ich nehme die Kalbsnieren-Pastete«, antwortete Meredith vorsichtig.
»Mr. Troughton hat sie empfohlen.«
»Er ist ein sehr guter Koch, unser Mr. Troughton.«
»Was ist mit Mrs. Troughton?«, fragte Meredith ganz unverblümt. Mavis senkte die Stimme.
»Eine sehr schwierige Frau! Ausländerin, wissen Sie! Ich weiß nicht genau, woher sie kommt. Mr. Troughton hat früher im Ausland bei einem CateringService gearbeitet. Eine von diesen großen Gesellschaften, die eine Menge Leute im Nahen Osten beschäftigen. Mrs. Troughton mochte Lynstone nie, und heute gehen sie und Mr. Troughton getrennte Wege. Sie wohnt noch immer hier, aber sie lassen sich niemals zusammen sehen! Sie kommt und geht, wie sie will. Eine sehr merkwürdige Frau.«
»Wer ist merkwürdig? Ich?«, mischte sich eine neue Stimme ein, und Molly James erschien auf der Bildfläche.
»Oh, hallo Molly! Nein, nicht du, Liebes. Wir haben über Mrs. T. gesprochen.«
»Ach so.« Molly ließ sich Meredith gegenüber in einen Sessel fallen.
»Ich nehme einen Gin Tonic, Mavis, wenn du Zeit hast.« Als Mavis gegangen war, fixierte Mrs. James ihr Gegenüber mit durchdringendem Blick.
»Hier bin ich! Sie haben mich doch erwartet, oder nicht?«
»Ja, habe ich.«
»Dacht ich’s mir, dass Sie zur schlauen Sorte gehören. Ich wusste, dass Sie es kapieren.« Molly kramte in den Taschen ihres khakifarbenen Safarihemds und brachte ein zerknittertes Päckchen Zigaretten zum Vorschein.
»Mögen Sie auch eine? Oh, Sie rauchen nicht, was? Stört es Sie, wenn ich …?«
»Nein, nur zu.« Molly steckte sich ihre Zigarette an und lehnte sich mit dem Glimmstängel im Mund zurück. Eine kleine Rauchwolke stieg ihr ins rechte Auge. Sie blinzelte Meredith verschwörerisch an, entweder wegen des Rauchs oder um Meredith besser abschätzen zu können, während sie das Päckchen zurück in die Tasche steckte.
»Wir könnten ein paar helle Frauen wie Sie gut brauchen in unserer Gegend. Andererseits gibt es für jemanden wie Sie kaum einen Grund, in Lynstone herumzuhängen …« Sie zögerte und nahm zu Merediths Erleichterung die Zigarette aus dem Mundwinkel. Mollys Gesichtsmuskeln hatten sich zu erschreckenden Grimassen zusammengezogen, um den Rauch aus der Zigarettenspitze zu meiden.
»Eine Schande, wirklich …«, fuhr Mrs. James nachdenklich fort.
»Eine Schande, dass es keine hellen Mädchen hier in der Gegend gibt. Früher hab ich das anders gesehen, aber ich war im Irrtum. Heute bezahle ich dafür.« Sie betrachtete ihre Zigarette mit philosophischer Gelassenheit. Molly hatte sich die Mühe gemacht, ein wenig billigen roten Lippenstift auf den wettergegerbten Mund aufzutragen, bevor sie sich zum Hotel aufgemacht hatte, doch das meiste davon klebte inzwischen an der Zigarette. Obwohl Meredith, wenn auch vage, ahnte, worauf Molly James mit dieser rätselhaften Bemerkung anspielen wollte, war es nicht das, was sie interessierte. Da es bei dieser Frau sinnlos schien, um den heißen Brei zu reden, kam Meredith direkt zur Sache.
»Worüber wollten Sie mit mir sprechen?« Molly war dankbar für diese Direktheit.
»Nevil. Sehen Sie, ich bin nicht von vorgestern. Ich weiß nicht, wer Sie sind. Schön und gut, Sie sind eine Freundin von Rachel Constantine, aber Sie waren vorher noch nie in Lynstone, also schätze ich, dass Sie wohl kaum sehr eng mit ihr befreundet sind.«
»Sie haben Recht, ich gestehe es. Wir waren auf derselben Schule, aber nur für zwei Jahre, und wir haben uns schon damals nicht besonders nahe gestanden. Nach der Schule haben wir uns nicht mehr gesehen bis zu jener Blumenausstellung. Es war eine Zufallsbegegnung, weiter nichts.« Die außerdem unter einem schlechten Stern gestanden hatte, dachte Meredith sinnend. Molly hatte aufmerksam zugehört. Ihre blassen, intelligenten Augen studierten dabei Merediths Gesicht. Es würde sehr schwer sein, Molly etwas vorzumachen, und außerdem unklug. Meredith zweifelte nicht einen Augenblick daran, dass Molly zu der Sorte Menschen gehörte, die nichts verzieh. Rachel hatte ihr erzählt, dass sie bereits auf Mollys schwarzer Liste der in Ungnade gefallenen Personen stand, und Meredith verspürte keinen Wunsch, Rachel dort Gesellschaft zu leisten. Sie war nervös und fragte sich, wie weit Molly zu gehen bereit war. Die Asche war zu einer langen, gekrümmten Schlange am Ende von Mollys Zigarette gewachsen. Molly klopfte die Asche schnell ab und machte dadurch den hübschen sauberen Aschenbecher, den Mavis gebracht hatte, schmutzig.
»Also schön, ich glaube Ihnen. Aber dieser Polizist, der nach Lynstone kommen will. Ich meine nicht den Burschen aus London, ich meine diesen Markby. Wer ist er genau? Abgesehen davon, dass Sie mit ihm befreundet sind?«
»Offen gestanden«, sagte Meredith und betrachtete die andere Frau nachdenklich, während sie überlegte, wie die Nachricht einschlagen würde,
»Alan Markby ist Rachel Constantines erster Ehemann.« Es war verdammt schwer, Molly James den Wind aus den Segeln zu nehmen, doch mit dieser Eröffnung hätte Meredith es beinahe geschafft. Mollys wettergegerbtes Antlitz lief hochrot an. Sie schnappte nach Luft, dann stieß sie hervor:
»Teufel noch mal!«, presste die Lippen um den Rest der Zigarette und funkelte Meredith an. Genau in diesem Augenblick brachte Mavis den Gin Tonic und ein weiteres Glas Rotwein für Meredith.
»Mit freundlicher Empfehlung von Mr. Troughton. Er sagt, die Pastete kommt in fünf Minuten.« Das Zwischenspiel gab Molly James genug Zeit, ihre Kräfte zu sammeln. Als Mavis wieder gegangen war, lehnte sie sich mit dem Gin Tonic in der Hand zurück und sagte:
»Dann hatte ich also Recht?«
»Womit?«
»Sie sind mehr als ein gewöhnlicher Besuch. Sie – und dieser andere, dieser Markby – sind hergekommen, um herumzuschnüffeln. Sie glauben, wer auch immer hinter dieser abscheulichen Tat steckt, muss aus Lynstone kommen!«
»Rachel wollte Gesellschaft …«, begann Meredith. Mollys Schlussfolgerungen waren alarmierend präzise, und Meredith wollte unter allen Umständen vermeiden, dass Molly James in der Ortschaft herumerzählte, was sie herausgefunden hatte. Molly beachtete Merediths Protest überhaupt nicht.
»Keine Sorge, ich erzähle es niemandem. Ich habe nur ein Interesse an dieser ganzen elenden Geschichte, und das ist Nevil. Hören Sie …«, sie drückte den Rest ihrer Zigarette im Aschenbecher aus.
»… der Junge glaubt, dass er Rachel Constantine liebt. Natürlich tut er das nicht! Es geht vorbei, eine jugendliche Schwärmerei, weiter nichts! Aber bis es vorbei ist, macht es das Leben verdammt unangenehm für uns alle! Ganz besonders jetzt, verstehen Sie, die Leute könnten sagen, er hatte ein Motiv für den Mord an Alex. Aber Nevil war an diesem Tag überhaupt nicht in London! Er war in der Tierpension, zusammen mit Gillian und mir! Und ich habe einen unabhängigen Zeugen!« Sie hob triumphierend die Stimme.
»Der Corgi!«
»Sie wollen einen Hund als Zeugen benennen?«
»Seien Sie nicht albern. Ich meine, das war der Tag, an dem die Frau mit dem Corgi aufgetaucht ist! Es war ein Hin und Her mit ihrer Buchung, und wir wussten bis zum Schluss nicht, ob der Hund nun kommt oder nicht. Aber an jenem Tag ist sie einfach vorbeigekommen und hat das Tier abgeladen. Sie erklärte, sie hätte die Anstreicher in der Wohnung und der Hund würde die ununterbrochen verbellen. Ich vermute, sie wollte erst wissen, ob der Hund und die Handwerker miteinander auskommen, bevor sie ihn vorbeibringt und das Geld für die Unterbringung ausgibt. Jedenfalls hat Nevil den Hund angenommen und ließ sie alle notwendigen Formulare unterschreiben und so weiter. Verstehen Sie, er kann überhaupt nicht in London gewesen sein.« Molly kippte ihren Gin in einem Zug hinunter. Also konnte Nevil von der Liste gestrichen werden. Meredith war Molly dankbar, dass sie ihr eine Menge unnötiger Fragen ersparte.
»Also gut, Molly, ich habe verstanden.« Der Geruch von heißem Gebäck und aromatischem Bratensaft stieg Meredith in die Nase. Mavis kam mit einem Tablett herbei. Sie stellte es ab. Die Kalbsnieren-Pastete wurde in einer kleinen Pastetenform aus Steingut serviert, die auf einem ovalen Teller stand, zusammen mit einer gebackenen Kartoffel und in Butter geschwenkten Karotten.
»Zufrieden?«, erkundigte sich Mavis, in einem Ton, der die Antwort vorwegnahm.
»Wunderbar!«
»Lassen Sie sich nicht stören«, sagte Molly freundlich. Mavis zog einen Sessel herbei und setzte sich zu ihrer Freundin.
»Wie sieht’s aus, Molly?«
»Jetzt prima!« Molly rollte die Augen in Richtung Meredith.
»Viel zu tun?«
»Morgen wahrscheinlich, wenn unsere Gäste eintreffen.« Diesmal bedachte Mavis Meredith mit einem bedeutungsvollen Grinsen. Wenn sie schon indirekt mit in die Konversation einbezogen wurde, dann konnte sie genauso gut gleich daran teilnehmen. Meredith nahm einen Schluck von ihrem Wein.
»Mavis, Rachel hat mir erzählt, dass Sie sich mit der Geschichte dieser Gegend auskennen. Ist das richtig?«
»Mein Mann hat sich ausgekannt.« Mavis Miene hellte sich auf.
»Er war in den Archiven unserer Gegend geradezu zu Hause.«
»Rachel hat gesagt, Sie könnten mir etwas über den Ursprung von Malefis Abbey erzählen?«
»Die Abbey? Die wurde von einem Angehörigen der Familie Morrow gebaut. Die Morrows haben hier in Lynstone House gelebt.« Mavis deutete zur Decke hinauf.
»Sie waren Brüder. Der ältere von beiden hat das Haus geerbt, und der jüngere war darüber sehr wütend. Er ist auf die schiefe Bahn geraten, und sie haben ihn rausgeworfen. Irgendwie hat er viel Geld gemacht, auf die nicht ganz feine englische Art. Jedenfalls kam er nach mehreren Jahren mit den Taschen voller Geld zurück in der Erwartung, dass man ihn im Haus der Familie wieder aufnehmen würde. Doch der andere Bruder hatte in der Zwischenzeit geheiratet und eine Familie gegründet und wollte keinen schlechten Einfluss in deren Umgebung. Also ließ er seinen Bruder nicht ins Haus. Der Jüngere beschloss, sich zu rächen. Er ließ Malefis Abbey direkt vor der Schwelle seines Elternhauses errichten und lebte von diesem Augenblick an auch genau dort. Der Name ist übrigens französisch. Es hat nichts mit dem heutigen Französisch zu tun, sondern es ist ein Wort aus dem Mittelalter. Niemand weiß ganz genau, was es bedeutet, aber es gibt zwei Möglichkeiten, es zu übersetzen: Entweder bedeutet es ›böser Sohn‹, oder es heißt ›Ich habe Böses getan‹. Es kann natürlich auch beides bedeuten, schätze ich, dann ist es eine Art Scherz, ein Wortspiel sozusagen. Aber die Morrows sind alle längst Geschichte. Beide Söhne des älteren Bruders sind im Ersten Weltkrieg geblieben, und damit hatte Lynstone House keinen Erben mehr.«
»Ich verstehe.« Meredith senkte die Gabel in den Blätterteig der Pastete, und der dicke Bratensaft troff heraus. Unglücklicherweise musste sie dabei an Blut denken, das aus der Seite eines getroffenen Tiers rann. Alex’ Tod und das bevorstehende Begräbnis hatten sie anfällig für derartige Gedanken gemacht. Sie legte die Gabel weg. Noch etwas an Mavis’ Geschichte erinnerte sie an Alex Constantine. Ein Mann, der mit Geld in den Taschen und einer geheimnisvollen Vergangenheit ankommt, um sich in Malefis Abbey niederzulassen. So etwas wie: Die Geschichte wiederholt sich ständig selbst?
»Ich muss weitermachen«, sagte Mavis und erhob sich.
»Nett, Sie mal wieder zu sehen.«
»Mir ist da ein Gedanke gekommen«, sagte Molly, als sie wieder unter vier Augen waren.
»Während Sie und Mavis über Malefis Abbey geschwatzt haben. Ich hätte ihn gerne tot gesehen!«
»Wen? Alex?« Meredith schob den Teller von sich und öffnete das Butterpäckchen, das zur gebackenen Kartoffel serviert worden war.
»Ich denke nicht, dass jemand glaubt, Sie könnten hinter alledem stecken, Molly.«
»Ich dachte, ich sage es trotzdem. Aber wenn ich geplant hätte, einen von beiden umzubringen, dann ja wohl die Frau, oder?« Ja, dachte Meredith. Du hättest dich für die Frau entschieden. Molly beugte sich vor.
»Dass sie frei und ungebunden hier um die Häuser ziehen kann, ist unter keinen Umständen etwas, was in meinem Interesse liegt!! Eine Witwe! Ich kann wirklich nicht begreifen, warum jemand ihren Mann hätte umbringen wollen. Er war so ein anständiger Kerl! Unterhaltsam, spendabel, hat immer ein wenig Geld aus der Tasche gezogen, wenn jemand mit der Sammeldose geklappert hat. Er hätte seine Frau besser unter Kontrolle halten müssen, aber er dachte wohl, sie wäre die Allergrößte, und sie durfte tun und lassen, was auch immer sie wollte. Manche gehen so mit ihren Hunden um – sogar ziemlich viele, glauben Sie mir! –, und das führt dann immer zu Problemen. Aber selbst da hat die Leine irgendwann ein Ende! Hätte sie wirklich Anstalten gemacht, mit einem anderen Mann Dummheiten zu begehen, hätte er sie zurückgepfiffen, und zwar scharf! Verstehen Sie jetzt? Ich hatte mehr Grund als die meisten, ihn mir munter und lebendig zu wünschen, sicher und unauflöslich mit dieser Frau verheiratet!« Molly beendete ihren Monolog mit einem mahnend geschwenkten Zeigefinger. Unglücklicherweise kam genau in diesem Augenblick, als sie aufhörte zu sprechen, »diese Frau« in das Restaurant.
KAPITEL 10
»Ich hatte Schuldgefühle, weil ich dich ganz allein dir selbst überlassen habe.« Rachel stand vor Meredith und musterte die Pastete mit einem misstrauischen Blick.
»Also habe ich mich beeilt, so weit das ging, und bin gleich wieder zurückgefahren in der Hoffnung, ich könnte dich davon abhalten, hier zu essen. Zu spät, wie ich sehe. Dann kann ich mich auch zu dir gesellen, schätze ich. Ich frage mich, ob der gute Jerry mir einen Salat machen könnte? Hallo Molly.« Der Gruß wurde beiläufig eingeworfen, und Rachel machte sich nicht die Mühe, der Angesprochenen einen Blick zu schenken.
»Hi, Rachel«, erwiderte Molly und hob ihr leeres Gin-Glas.
»Wenn Sie zum Tresen gehen, sagen Sie doch Troughton bitte, er soll mir noch einen bringen, ja?« Rachel zuckte die Schultern und ging zur Theke, wo Mr. Troughton sie bereits erwartete, die Hände auf die Arbeitsfläche gestützt, sodass sein Kreuz noch breiter wirkte. Molly stieß ein heiseres Kichern aus.
»Das hat sie ganz schön aus der Fassung gebracht. Mit mir reden zu müssen und auch noch meine Bestellung weiterzugeben!« Meredith, die Molly eigentlich ganz gerne mochte, aber bei Rachel zu Gast war, fand sich unvermittelt in einer schwierigen Situation wieder. Sie machte sich über ihre Pastete her, um nicht antworten zu müssen. Rachel schien ihre Bestellung aufgegeben zu haben und ging nun zu dem Tisch, an dem die beiden älteren Gentlemen saßen. Sie erhoben sich höflich, um Rachel zu grüßen, und ein kleines Gespräch bahnte sich an.
»Spielt überhaupt keine Rolle, wie alt sie sind«, sagte Molly abfällig.
»Sehen Sie sich nur diese beiden alten Trottel an! Geil wie zwei Ziegenböcke!«
»Kommen Sie, Molly, seien Sie nicht unfair!«, tadelte Meredith. Das ging nun wirklich entschieden zu weit.
»Mir doch egal!«, erwiderte Molly.
»Ich rede so, wie mir der Schnabel gewachsen ist!« Mr. Troughton kam herbei. Er brachte Molly einen neuen Gin Tonic. Dann deckte er den Tisch gewissenhaft mit einem Glas Wein und dem in einer roten Papierserviette eingerollten Besteck für die abwesende Rachel.
»Der Salat kommt gleich. Sind Sie mit der Pastete zufrieden?«
»Wunderbar, danke. Der Wein ebenfalls.« Er war es tatsächlich.
»Ich kenne einen Händler …«, sagte Mr. Troughton geheimnisvoll und zog sich zurück, bevor Meredith ihn nach der Identität seines mysteriösen Lieferanten ausfragen konnte. Rachel kam zu ihrem Tisch und ließ sich in dem Sessel nieder, der kurze Zeit zuvor von Mavis Tyrrell geräumt worden war.
»Ich habe die Blumen für Alex bestellt, als ich in der Stadt war. Ich hoffe, sie sind richtig. Ich hab auch einen Kranz in deinem und Alans Namen bestellt, Meredith. Hoffentlich ist es dir recht. Ich habe dich mit der Beerdigung überfallen und wusste, dass du keine Gelegenheit dazu hattest.«
»Nein, hatte ich nicht. Danke sehr.«
»Und was hast du den ganzen Morgen über gemacht?« Rachel ignorierte Molly demonstrativ, was Meredith ärgerte. Ihre Zeit war ihr zu schade für diese dummen Spielchen, und außerdem war es nicht ihr Streit.
»Ich hab deinen fantastischen Park bewundert und mich mit Mrs. James hier unterhalten.« Nun blieb Rachel kaum noch etwas anderes übrig, als sich der dritten Person am Tisch zuzuwenden.
»Erzählen Sie all die schmutzigen Geschichten, Molly?«
»Gibt es denn welche?«, schoss Molly James mit unüberhörbarem Sarkasmus zurück.
»Ich bin sicher, wenn es welche gäbe, würden Sie sie alle kennen. Sie nehmen Ihr Mittagessen flüssig ein, wie ich sehe.«
»Genau, und jetzt hören Sie mir verdammt noch mal genau zu!«, fauchte Molly, indem sie sich vorbeugte.
»Ich hab den ganzen Morgen hart gearbeitet, und ich hab mir mein Glas hier sauer verdient. Wenn Sie hin und wieder einen Handschlag täten, würde Ihnen das auch nicht schaden! Es würde Sie von dummen Gedanken abbringen!«
»Dummen Gedanken, Molly?« Rachels Stimme hätte Glas durchschneiden können.
»Sie kennen doch sicher das Sprichwort: Müßiggang ist aller Laster Anfang.« Rachel beugte sich über den Tisch zu Molly, bis sich die Nasen der beiden Frauen fast berührten.
»Sie widerliche alte Hexe! Ich habe Ihren kostbaren Sohn nicht verführt und werde es auch nicht tun, wenn es das ist, was Sie fürchten!«
»Oh, haben Sie nicht?«, krächzte Molly.
»Um Himmels willen, nein! Ich bin alles andere als scharf darauf!«
»Dann sagen Sie ihm das! Warum sagen Sie es ihm nicht, eh? Nein, Sie machen so etwas nicht, Sie spielen mit den Gefühlen meines Jungen!«
»Reden Sie nicht so einen Unsinn, Molly! Und vor allen Dingen weniger gefühlsduselig! Sie klingen ja wie ein schlechter viktorianischer Roman!«
»Ach, Unsinn rede ich also, was? Er ist ein sensibler Junge! Aber was wissen Sie schon davon! Haben Sie eine Vorstellung, was Sie ihm antun?!«
»Er ist kein Junge mehr, Herr im Himmel! Er ist ein erwachsener Mann! Gestehen Sie sich das endlich ein und lassen Sie ihn von Ihrer Leine!«
»Könnten die Damen den Streit vielleicht woanders austragen?«, unterbrach Meredith die beiden wütend. Das Pärchen mit der Landkarte hatte angefangen fasziniert zu lauschen. Der junge Mann grinste. Die Protagonisten ignorierten Meredith.
»Wie können Sie es wagen!«, schnaubte Molly.
»Wie können Sie es wagen!«, fauchte Rachel zurück.
»Ich habe gerade meinen Mann unter schrecklichen Umständen verloren, und Sie sitzen da und beschuldigen mich, ich hätte ihn betrogen! Sie könnten wenigstens einen Funken Anstand aufbringen!« Meredith musste zugeben, dass Rachel Recht hatte. Das war weder die richtige Zeit noch der geeignete Ort für Molly, um ihrer Wut freien Lauf zu lassen, ganz gleich, wie tief diese Wut saß und ob sie gerechtfertigt war oder nicht. Meredith schob ihren Teller von sich.
»Ich bin fertig, Rachel. Können wir vielleicht nach Hause gehen? Der Wirt hat den Salat noch nicht gebracht, und wir können die Bestellung auf dem Weg nach draußen rückgängig machen.« Sie hätte sich ihre Worte genauso gut sparen können.
»Anstand? Was verstehen Sie schon von Anstand!«, knurrte Mrs. James.
»Ein Ehemann wird begraben, und er liegt noch nicht unter der Erde, da lassen Sie schon das Vorgängermodell als Ersatz vorbeikommen! Ist das vielleicht Anstand?« Rachel warf Meredith einen wütenden Blick zu.
»Du hast ihr von Alan erzählt? Ich hätte wirklich geglaubt, du wärst klüger, Merry!«
»Zieh mich nicht in euren Streit hinein!«, erwiderte Meredith scharf.
»Ich schätze, du hattest keine Ahnung, was für eine Person diese Frau ist!« Rachel deutete mit bebendem Finger auf Molly.
»Ich«, setzte Meredith an,
»gehe jetzt jedenfalls nach Malefis Abbey zurück, mit dir oder ohne dich!«, und sammelte entschlossen ihre Siebensachen ein.
»Trotzdem würde ich es für besser halten, wenn du mitkommst, Ray. Die Leute starren schon hierher.« Das junge Paar versenkte sich erschrocken wieder in seine Landkarte. In diesem Augenblick erschien Mr. Troughton mit Rachels Salat.
»Pâté, Mrs. C?«
»Ja!« Rachel nahm ihm das Tablett aus der Hand und marschierte damit in eine andere Ecke des Lokals, wo sie sich an einem freien Tisch niederließ.
»Bitte entschuldigen Sie mich«, sagte Meredith zu Molly James. Sie nahm Rachels Weißwein und das Besteck und ging damit zu dem neuen Tisch, wo Rachel Platz genommen hatte und frustriert auf ihren Teller starrte.
»Hier, das wirst du brauchen.« Meredith reichte ihr Messer und Gabel.
»Danke. Ich wollte dich nicht angiften, Merry, bitte entschuldige, aber diese Frau hat mich bis zur Weißglut gereizt.«
»Reden wir jetzt nicht mehr darüber, in Ordnung?«
»Aber sie hat mich beleidigt!« Rachels Augen füllten sich mit Tränen der Wut.
»Nimm einen Schluck Wein und vergiss es, ja? Sie geht sowieso gerade.« Mrs. James marschierte voll des Triumphs und nicht weniger mit Alkohol abgefüllt hoch erhobenen Hauptes aus der Bar.
»Der Gedanke, dass jemand meinen lieben Alex ermordet hat! Warum geht nicht jemand hin und ermordet sie?«, zischte Rachel und stieß mit der Gabel in Richtung ihrer Feindin.
»Das sollte man nämlich tun, weißt du? Das sollte man wirklich tun! Gib mir eine Waffe, und ich bringe sie um!« In der Bar herrschte gerade Schweigen, und Rachels Worte hallten kristallklar durch den Saal.
»Halt die Klappe, Ray!«, befahl Meredith harsch, doch es war bereits zu spät.
Endlich Sonntagmorgen. Meredith riss das Schlafzimmerfenster auf und atmete tief durch. In ein paar Stunden würde Alan da sein. Der Morgentau bedeckte den Rasen mit einem dünnen silbernen Film. Vögel flatterten zwischen den Bäumen umher. Bei so viel Beschaulichkeit und Frieden schien jegliche Disharmonie unvorstellbar. Dann hörte Meredith ganz schwach, in weiter Ferne und wie als Erinnerung Hundegebell. Frühstückszeit in den Zwingern. Die über Nacht verblasste Erinnerung an den gestrigen Eklat kehrte machtvoll genug zurück, um Meredith innerlich zusammenzucken zu lassen. Sie hoffte inbrünstig, dass sich eine Szene wie diese nicht in Alans Gegenwart wiederholte.
Rachel saß nicht am Frühstückstisch.
»Sie fühlt sich nicht besonders wohl«, sagte Mrs. Pascoe.
»Kein Wunder. Es war alles entsetzlich anstrengend für sie. Eier mit Speck?«
»Nur ein Ei bitte, danke sehr. Isst Mrs. Constantine denn einigermaßen vernünftig?«
»Nein. Meiner Meinung nach nicht. Sie pickt nur in ihrem Essen. Ich habe ein hübsches Stück Fleisch für heute Mittag eingekauft und hoffe, ich kann sie damit zum Essen überreden. Um wie viel Uhr wird der Gentleman hier eintreffen?«
»Gegen elf.«
»Ich bin froh«, sagte Mrs. Pascoe,
»dass Mrs. Constantine in dieser schweren Zeit ein wenig Gesellschaft hat, wegen der Beerdigung am Dienstag und allem. Das ist die Zeit, in der man die Familie braucht. Aber Mr. Constantine hat natürlich keine Familie in England, und von seiner Seite ist niemand da. Furchtbar schade, wirklich.«
»Ja. Ich habe ihn nur flüchtig kennen gelernt.« Sehr flüchtig.
»Haben Sie häufig Besucher in Malefis Abbey? Unter normalen Umständen, meine ich?«
»Nein, meine Liebe. Mr. und Mrs. Constantine haben sehr zurückgezogen gelebt. Er war ganz vernarrt in sie.« Mrs. Pascoe drückte die gefalteten Hände gegen die Brust und verdrehte die Augen himmelwärts.
»Er war ein so wundervoller Mann!« Vielleicht sollte jemand Alex als Kandidaten für die Heiligsprechung vorschlagen!, dachte Meredith. Was sie brauchten und was Meredith noch nicht gefunden hatte, das war jemand, der als Advocatus Diaboli agierte. Doch das könnte möglicherweise ihre Aufgabe werden. Und falls sie Erfolg hatte? Angenommen, es stellte sich heraus, dass Alex Gelder für Libyen oder für den Iran gewaschen hatte, mit denen subversive Organisationen finanziert wurden? Oder dass er ein syrischer Nationalist gewesen war, der sich in den Kopf gesetzt hatte, alles im Nahen Osten zu zerstören, was den Interessen seines Landes entgegenstand? War es das, was Fosters Leute vermuteten? Oder, wenn es nichts Politisches war, sondern Drogenhandel oder Waffen oder weiß der Himmel was, vielleicht ein Finanzskandal? Was würde es bringen, wenn sie das herausfand, außer Rachels Erinnerung an eine glückliche Ehe zu zerstören sowie den makellosen Ruf, den Alex in dieser Gegend genossen hatte? Ein Toter konnte niemandem mehr schaden. Warum sollte sie sein Andenken schädigen? Meredith vertrieb die wirren Gedanken aus ihrem Kopf. Die Wahrscheinlichkeit war sowieso hoch, dass sie nicht das Geringste finden würde und Foster den Fehlschlag würde akzeptieren müssen. Und wenn es ihm nicht gefiel – na und? Nach einem ansonsten gemütlichen Frühstück ging Meredith nach oben, um nach Rachel zu sehen. Sie saß aufrecht in ihrem Bett und las die Sonntagszeitung. Und in was für einem Bett! Es war ein wirklich gewaltiger Diwan, mit einem riesigen, aufragenden Kopfteil in majestätischem Purpur mit goldenem Rokokorahmen. Zu beiden Seiten standen Nachttische im Louis-XV-Stil, darauf Lampen mit gefransten Satinschirmen und gedrechselten Füßen. Rachel ruhte inmitten dieser byzantinischen Pracht, lächelte Meredith zur Begrüßung an und lud sie mit einer königlichen Geste ein, näher zu treten.
»Hallo Merry! Welche möchtest du? George Naseby liefert uns sowohl die Sunday Times als auch die Mail on Sunday.«
»Ich komme später noch einmal darauf zurück, danke. Im Augenblick bin ich eigentlich nur hier, weil ich sehen wollte, wie es dir geht.«
»Mehr oder weniger gut, danke.« Rachel legte die Zeitung weg.
»Ich mache mir Gedanken wegen der Blumen für die Beerdigung.«
»Ich bin sicher, du hast eine gute Wahl getroffen.«
»Ich dachte, ich frage vielleicht lieber Martin, ob wir etwas draußen in diesem Park haben. Weißt du, irgendwelches Grünzeug, das man zu einem Kranz binden kann.«
»Rachel, ich fahre am Montagmorgen in die Stadt, springe bei der Gärtnerei vorbei und überzeuge mich, ob alles richtig ist. Keine Sorge! Wenn dir nichts weiter fehlt, mache ich jetzt einen kleinen Spaziergang.«
Der große Garten wirkte frisch und grün, der Boden unter den Füßen war ein wenig feucht vom Tau der Nacht. Meredith wanderte um das Haus herum und suchte nach möglichem Material, das sich eignete, um Kränze zu flechten, falls tatsächlich bei den Blumenarrangements etwas schief gegangen sein sollte. Nicht, dass sie ein Talent für derartige Arrangements besessen hätte, geschweige denn wusste, wie man einen Kranz flocht. Mehr noch, sie würden Martin fragen müssen, bevor sie irgendetwas abschnitten. Ihrer Erfahrung nach gerieten Gärtner völlig außer sich, wenn irgendjemand daherkam und einen mühselig herangezogenen Setzling oder eine Blume abschnitt und sie zu nichts anderem als Dekorationszwecken entführte. Dass der Garten nicht Martins eigener Garten war, spielte dabei überhaupt keine Rolle. Wenn ein Mann den ganzen Tag lang mit Mähen und Unkrautrupfen verbrachte, dann betrachtete er den Park als seinen eigenen, ganz gleich, wem das Grundstück gehörte.
Meredith war nicht weiter überrascht, als sie Martin nirgendwo entdecken konnte. Es war Sonntag, und der junge Mann hatte vermutlich heute frei. Er wohnte, hatte Rachel ihr erzählt, in einer kleinen Wohnung über der ein wenig abseits vom Haus stehenden Doppelgarage. Als Meredith dort vorbeikam, sah sie, dass die Vorhänge noch immer geschlossen waren. Martin verbrachte offensichtlich den Vormittag im Bett. Sie fragte sich, ob er alleine war oder ob Nasebys Assistentin ihm Gesellschaft leistete.
Meredith warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Nicht mehr lange und Alan würde eintreffen. Vielleicht war es gar keine schlechte Idee, ihn abzupassen, bevor er beim Haus ankam, und ihn kurz über die Situation zu unterrichten. Meredith ging hinunter zum Tor und blieb eine Weile bei einem der Pfosten stehen, während sie die Straße hinunter in die Richtung blickte, aus der Alans Wagen kommen musste.
Die Straße war leer, und einfach nur herumzustehen wurde ihr rasch langweilig. Ein plötzliches Rascheln in den Bäumen auf der anderen Seite, wohl an der Grenze des Grundstücks, das zum Hotel gehörte, erregte Merediths Aufmerksamkeit. Ein graues Eichhörnchen sprang zwischen dem Wurzelgewirr einer alten Eiche umher und rannte dann weiter zu einer Rosskastanie. Vor dem Baum hielt es kurz inne, warf einen Blick zu Meredith hinüber und verschwand dann hoch oben in den Zweigen mit den frischen grünen Blättern.
Es war recht kühl unter den ausladenden Kronen der Bäume, die Luft war feucht, und es roch nach Rindenmulch und nasser Erde. Meredith versuchte, sich die Arme warm zu reiben, und hoffte, dass Alan sich nicht verspätete. In den Zweigen um sie herum raschelte es erneut, und die hinter der steinernen Ananas auf dem Torpfosten erschauerten in einer kühlen Brise. Vielleicht saß dort noch ein anderes Tier, beobachtete sie und wartete darauf, dass sie ging.
Sie vernahm ein neues Geräusch, anders diesmal, ein Kratzen oder Schaben, wie von Stein auf Stein. Meredith runzelte die Stirn und sah nach oben. Nichts. Allmählich wurde das ununterbrochene Rascheln und Flüstern in den Bäumen unheimlich.
»Komm endlich, Alan!«, flüsterte sie.
Da war es wieder, das kratzende Geräusch. Waren das wirklich nur die Zweige? Sie versuchte es zu ignorieren, doch dann kam es wieder, lauter und länger diesmal, gefolgt von einem Mark und Bein durchdringenden Quietschen. Sie konnte es nicht länger ignorieren, und es konnte unmöglich von den Zweigen kommen. Aufgeschreckt blickte Meredith erneut nach oben, zu der steinernen Ananas – gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie sie heftig in ihrem eierbecherförmigen Sockel schwankte, bevor sie auf Meredith hinunterkrachte.
KAPITEL 11
Alan Markby fand die Abzweigung nach Windmill Hill am Sonntagmorgen ohne jedes Problem. Meredith hatte ihm am Telefon genau erklärt, wo sie lag.
Nur darüber, über den Weg, hatten sie am Telefon gesprochen. Er brütete während der gesamten Fahrt über dieser Tatsache. Seiner Erfahrung nach standen die Menschen unter großer Anspannung, wenn sie extreme Verhaltensweisen zeigten und entweder ununterbrochen redeten oder plötzlich in sich gekehrt und schweigsam wurden. Dass Meredith so wenig gesagt hatte, konnte bedeuten, dass sie sich in einer schwierigen Situation befand – oder dass Rachel ihr Telefonat hatte mithören können.
Schwierige Situation?! Markby hatte ungläubig geschnaubt, während der Wagen über die schlechte Landstraße geholpert war. Seine Zweifel in dieser Angelegenheit entsprangen der Tatsache, dass er selbst sich nach all den Jahren von Rachel hatte auf diese Weise manipulieren lassen. Wirklich, er fuhr nur wegen Meredith nach Lynstone. Aber Meredith war dort, weil Rachel sie darum gebeten hatte. Also hatte Rachel ihn eindeutig dorthin gelockt, mit Meredith als Köder. Laura hatte diesen Schachzug auf den ersten Blick durchschaut.
Er hatte Lauras Vermutung entrüstet von sich gewiesen, doch er hatte sich selbst keine Illusionen gemacht und lediglich versucht, das Gesicht zu wahren. Rachel war völlig unfähig, ohne einen Mann zu existieren, und in einer Krisenzeit tat es da wohl selbst ein Exehemann. Die ihm zugedachte Rolle bestand zweifellos darin, Superintendent Hawkins von ihr abzulenken, dessen bevorstehender Ankunft in Lynstone Rachel mit Bestürzung entgegensah. Sie ging Unannehmlichkeiten gewiss lieber aus dem Weg statt sie in Form eines zynischen ermittelnden Beamten auf sich zukommen zu sehen.
Markby hätte seinerseits ebenfalls nichts dagegen einzuwenden gehabt, wenn ihm wenigstens ein Teil der Unannehmlichkeiten erspart geblieben wäre. Doch kein Aspekt der kommenden Tage erfüllte ihn nicht mit düsteren Gedanken und Vorahnungen. Das Begräbnis von Alex beispielsweise, für das er seinen dunklen Anzug und die schwarze Krawatte eingepackt hatte. Oder die Tatsache, dass er mit dem misstrauischen und giftigen Superintendent Hawkins im gleichen Hotel wohnen würde.
Hawkins würde beim Anblick Markbys sicher gleich seine eigenen Schlussfolgerungen für den Grund seiner Anwesenheit ziehen. Die bloße Tatsache, dass diese Schlussfolgerungen falsch waren, würde die Sache für Markby nicht leichter machen.
Markby überlegte, dass er trotz aller Unannehmlichkeiten hohes Vertrauen in die Fähigkeiten des Mannes von Scotland Yard hatte. Hawkins war ein erfahrener Beamter und würde sich von niemandem so leicht zum Narren halten lassen.
Markby vermutete, dass dieser Respekt nicht auf Gegenseitigkeit beruhte und dass Hawkins’ Meinung von ihm nicht die beste war. Hawkins sah in Alan einen Mann – schlimmer noch, einen Polizeibeamten! –, der Fotografien von Blumen schoss, während wenige Meter weiter ein heimtückischer Mordanschlag auf einen anderen Menschen stattfand. Um allem die Krone aufzusetzen, war er anschließend mit dem bereits tödlich getroffenen Opfer zu dessen Wagen spaziert, ohne die geringste Ahnung, was sich quasi vor seinen Augen abgespielt hatte.
Markby würde es nie vergessen, und er verdiente es auch nicht, sagte er sich bitter. Er war wütend über sich selbst deswegen. Er hätte es bemerken müssen, hatte es aber nicht. Kein Wunder, dass Hawkins ihn als Schande für die ganze britische Polizei betrachtete!
Andererseits – so gut Hawkins auch sein mochte, er würde sich in Lynstone schwer tun. Er war durch und durch ein Stadtmensch, und er bewegte sich auf beunruhigend fremdem Terrain. Landbewohner waren viel weniger umgänglich als die weltoffenen Londoner. Auf dem Land zu wohnen war nicht gleichzusetzen mit dumm. Bauernschlau und gerissen war man auf dem Land. Hawkins würde mehr als einmal in ohnmächtiger Wut fluchen, wenn Frage auf Frage fast spielerisch zurückgegeben wurde, aus perverser Freude daran, den Städter stranden zu sehen.
Markbys Gedanken kehrten zu Meredith zurück. Er kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie inzwischen auf eigene Faust Erkundigungen eingezogen haben dürfte. Der Gedanke beunruhigte ihn und machte ihn zugleich neugierig auf das, was sie ausgegraben hatte. Er war wirklich überrascht gewesen, dass sie so schnell und so widerstandslos auf Rachels Hilferuf reagiert hatte, und in Markby regte sich der Verdacht, dass mehr hinter Merediths Entscheidung steckte, Rachel zu besuchen, als sie ihm erzählt hatte. Er hoffte nur, er täuschte sich nicht, und es war mehr als reine Neugierde. Meredith gehörte nicht zu der Sorte Mensch, die sich am Unglück anderer ergötzten. Doch das würde sich alles aufklären, wenn er sie erst sah.
Einen Augenblick später war es so weit. An der Straße entlang zog sich eine Trockenmauer unter überhängendem Blätterwerk hin, die von einer Einfahrt mit zwei gemauerten Torpfosten durchbrochen wurde. Markby hatte seine Fahrt verlangsamt und den Blinker gesetzt, obwohl weit und breit kein anderes Fahrzeug zu sehen gewesen war. Reine Vernunft hatte ihn daran gehindert, einfach das Lenkrad einzuschlagen, um schwungvoll durch die Toreinfahrt zu schießen – und den menschlichen Körper zu überfahren, der reglos in der Einfahrt zwischen den Pfosten lag.
Markby trat auf die Bremse und sprang aus dem Wagen. Als er bei ihr ankam, versuchte sie sich aufzusetzen und schüttelte benommen den Kopf. Er beugte sich über sie und fasste sie bei den Schultern.
»Keine Aufregung!«
»Alan?« Sie rappelte sich auf und saß auf dem feuchten Kies, während sie mit einem Ausdruck der Überraschung auf ihr verschrammtes rechtes Handgelenk und ihre Hand starrte. Sie blickte zu ihm hoch, bemerkte seine Sorge und ächzte:
»Mir fehlt nichts. Ehrlich, alles in Ordnung!«
»Ich hätte dich fast überfahren! Was ist passiert?« Sie schüttelte ein weiteres Mal den Kopf, um die Benommenheit zu vertreiben, und sah sich um.
»Das Ding da. Es ist runtergefallen.« Er blickte zu der Stelle, wo das Ding lag.
»Das Ding« war ein großes Steingebilde, sauber von der Wucht des Aufpralls in zwei Teile gespalten. Es sah aus wie ein großes, unregelmäßig geformtes Ei. Markby erkannte es als stilisierte Ananas, ein verbreitetes Torornament für Villen dieser Art. Automatisch sah Markby zum anderen Torpfosten hoch und bemerkte das Gegenstück zu der herabgestürzten Skulptur, das noch immer aufrecht hoch oben auf seinem Sockel thronte. Sein Herz setzte für einen kurzen Moment voller Furcht aus, als ihm bewusst wurde, welche Folgen dieses Unglück hätte haben können. Sein Ärger über sich selbst kehrte mit Macht zurück, weil er hätte verhindern müssen, dass Meredith nach Lynstone fuhr. Er hatte zwar dieses spezielle Unglück nicht vorhersehen können, doch er hätte wissen müssen, dass aus dem Besuch bei Rachel nichts Gutes herauskommen konnte. Irgendetwas musste einfach schief gehen.
»Komm jetzt«, sagte er grimmig,
»ich helfe dir hoch; der Boden ist ja ganz nass.« Sie ließ sich von ihm auf die Beine ziehen und untersuchte kläglich ihren völlig verschmutzten Rock.
»Sieh dir das an! Wie ärgerlich!«
»Ärgerlich?« Markby starrte zuerst auf die Schmutzflecken und dann ungläubig auf Meredith.
»Dieses Ding hätte dir den Schädel zertrümmern können!«
»Ja. Es muss locker gewesen sein. Ich habe einfach hier gestanden und auf dich gewartet.« Sie versuchte ein schwaches Grinsen.
»Ich hörte ein knirschendes Geräusch, aber ich war nicht geistesgegenwärtig genug, um zu erkennen, dass das Ding jeden Augenblick herunterfallen würde.«
»Steig in den Wagen!«, grollte er.
»Ich fahre uns zum Haus!« Während er um die herabgefallene Ananas herum und die Auffahrt entlang zum Haupteingang fuhr, verhinderte das Chaos in seinem Verstand, dass er die Fassade von Malefis Abbey mit der ihr gebührenden Aufmerksamkeit betrachtete. Doch der exzentrische Charakter blieb ihm nicht verborgen, und er schätzte das wahrscheinliche Alter des Hauses. Falls die Steinfrüchte zum Zeitpunkt der Errichtung des Gebäudes auf die Torpfosten gesetzt worden waren, dann hatten sie seit hundert Jahren oder mehr dort gestanden. Und eine davon war ausgerechnet an diesem Morgen heruntergefallen. Markby war zu erfahren in seinem Metier, um diese Geschichte als Zufall abtun zu können. Rachel öffnete die Tür, als sie vor dem Haus hielten.
»Alan! Endlich bist du da!« Ihr Blick glitt zu Alans Begleiterin, der Alan in diesem Augenblick aus dem Beifahrersitz half.
»Merry?« Ihr Tonfall wurde schrill.
»Was ist passiert?«
Als Markby und Meredith erklärt hatten, was sich ereignet hatte, bestand Rachel darauf, dass Meredith zunächst einen Brandy nahm, um anschließend nach oben zu gehen und sich bis zum Mittagessen hinzulegen. Meredith hatte protestiert, dass es vollkommen unnötig sei und sie nichts weiter benötige als eine Salbe für ihre verletzte Hand sowie saubere Kleidung.
Doch dieses eine Mal hatte Markby Rachel Recht gegeben. Auf ihr gemeinsames Beharren hin wurde Meredith noch immer protestierend von einer mitfühlenden und schockierten Mrs. Pascoe nach oben geführt.
Allein mit Rachel hatte Markby Mühe, seinen aufsteigenden Zorn unter Kontrolle zu halten. Er schob die Hände in die Taschen und blickte sich streitlustig im Zimmer um. Was für ein scheußliches Haus das war! Eine Art viktorianischer Albtraum, ausstaffiert mit kostspieligem Mobiliar im Stil dieser Epoche, echten Antiquitäten und Reproduktionen, und wertvollem Schnickschnack. Markby musste an ein mitteleuropäisches Schloss denken, das in ein Museum verwandelt worden war und eine das Auge reizende, wenngleich auch fesselnde Mischung aus Luxus, Dekadenz und Weltschmerz ausstrahlte.
Er richtete den Blick unwillig auf Rachel, die mit verschränkten Armen neben ihm stand. Sie verstärkte den Eindruck noch, den er von Malefis Abbey hatte. Sie trug ein schwarzes Wollkostüm und eine weiße Seidenbluse, das honigblonde lockige Haar wurde hinten von einem Band zusammengehalten. Sie trug Perlenohrringe und eine passende Perlenkette dazu. Markby hätte seinen letzten Penny darauf verwettet, dass die Perlen echt waren.
Sie begegnete seinem abschätzenden Blick mit herausfordernden grünen Augen.
»Ich werde Martin sagen, dass er die Einfahrt freiräumt. Was für ein unglaublicher Zufall! Ich verstehe überhaupt nicht, wie dieses Ding herunterfallen konnte!«
Sie ging zielstrebig auf die Tür zu, doch Markby wollte nicht, dass die Ananas jetzt schon weggeräumt wurde.
»Warte!«, sagte er scharf.
»Lass das Ding liegen, wo es ist! Ich will es mir zuerst genauer ansehen und herausfinden, warum es heruntergefallen ist. Ich möchte auf den anderen Pfosten steigen und die zweite Ananas ebenfalls überprüfen. Ich hoffe doch, du hast eine Leiter?«
»Ja, natürlich haben wir eine Leiter!«, erwiderte sie irritiert.
»Aber das kann Martin machen. Es gehört zu seinen Aufgaben!«
»Ich werde es machen!«, sagte Markby so entschieden, dass sie mit einer zustimmenden Handbewegung einlenkte.
»Also schön, wenn es unbedingt sein muss! Aber ich nehme doch an, dass wir vorher Zeit für ein gepflegtes Glas Sherry haben? Du wirst nicht sofort aus dem Haus rennen, oder?« Er wollte keinen Sherry. Er wollte nicht in Malefis Abbey sein. Er wollte Meredith aufsammeln, sie in seinen Wagen verfrachten und zurück nach Bamford fahren. Doch Rachel erweckte in ihm immer das Gefühl, als sei er der Unvernünftige. Also sagte er:
»In Ordnung. Ich nehme einen Sherry, und dann gehe ich runter zur Straße und sehe mir das Tor an. Ich möchte es auf jeden Fall vor dem Mittagessen tun!«
»Selbstverständlich.« Sie lächelte und ging zu einem Sideboard, auf dem ein Tablett mit Gläsern und eine Reihe von Flaschen stand.
»Trocken? Versuch den hier. Alex … Alex hat ihn gemocht.« Sie brachte ihm ein Glas mit blassgoldenem Inhalt. Er nahm es zögernd. Jetzt würde er also Alex’ Sherry trinken und hinterher verkünden, wie ausgezeichnet dieser war. Sie zog die Fäden, brachte ihn dazu, gehorsam in Alex’ Fußstapfen zu treten, bereit, Alex’ Rolle als Beschützer zu übernehmen. Das, was Rachel dann sagte, bestätigte seinen Verdacht. Sie sank in den nächsten üppigen, mit Kissen übersäten Polstersessel.
»Ich bin ja so froh, dass du gekommen bist, Alan!« Sie zog die Füße hoch und lächelte ihn an.
»Tatsächlich?«, entgegnete er mürrisch.
»Warum? Nein, lass mich raten! Ich werde all deine Probleme lösen, ist es das?«
»Sei nicht albern! Aber du bist tüchtig. Ich brauche Menschen um mich herum, die ich kenne und denen ich vertrauen kann. Und du kannst mit Hawkins fertig werden.«
»Ah. Das dachte ich mir.« Rachel wand sich nervös und nahm einen Schluck aus ihrem eigenen Sherry glas.
»Fang nicht an zu schimpfen, Alan, bitte! Mir ist bewusst, dass du aufgebracht bist, weil Meredith wirklich einen heftigen Schrecken bekommen hat, aber lass das nicht an mir aus. Nicht jetzt!« Ja, sorg doch dafür, dass ich mich grausam und ungehobelt fühle! Er fühlte sich genau so. Doch eben das war es, was sie wollte. Der Zorn kehrte zurück. Sie musste ihn für einen völligen Trottel halten, wenn sie glaubte, dass er nicht sah, welche Rolle sie ihm zugedacht hatte. Alex stand unpraktischerweise nicht mehr zur Verfügung. Also hatte sie ihn hergeholt, aus einer finsteren Ecke gekramt wie ein altes Stück Haushaltsware, abgestaubt und einstweilen wieder in Betrieb genommen. Markby stellte sein Glas ab und beugte sich vor.
»Ich habe nicht die Absicht, unfreundlich zu sein, Rachel. Aber um jeden unnötigen Stress im Verlauf der nächsten Tage zu vermeiden, könnten wir, da wir nun schon einmal unter uns sind, ein paar längst fällige Dinge aussprechen und die Luft klären.«
»Welche Dinge?«, fragte sie besorgt.
»Es tut mir Leid um Alex. Ich verstehe, dass dir sein Verlust zu schaffen macht, das bevorstehende Begräbnis und alles. Selbstverständlich werde ich alles tun, was in meiner Macht steht, um dir in praktischen Dingen zu helfen. Aber es gefällt mir nicht, dass du Meredith als Köder benutzt hast, um mich herzulocken.«
»Ist das Lauras Theorie?«, erkundigte sie sich gehässig.
»Nein, meine eigene.«
»Aber Laura wird sicherlich versucht haben, dich am Herkommen zu hindern? Wie geht es meiner ehemaligen Schwägerin? Mit der Familie alles bestens?« Rachels Lächeln hätte einem hungrigen Tiger Ehre gemacht.
»Es geht ihnen gut, danke der Nachfrage.«
»Wie viele sind es inzwischen?«
»Sie haben vier Kinder.«
»Ach du lieber Gott!«, sagte Rachel zuckersüß.
»So viele?«
»Rachel! Ich kann und will mich nicht in die offiziellen Ermittlungen zu Alex’ Tod einmischen! Ich habe keinen Einfluss auf Hawkins, ganz im Gegenteil. Und ich bin nicht – ich kann mich nicht mit deinen emotionalen Problemen befassen!« In ihren Augen funkelte aufkeimender Zorn.
»Das ist keine Masche, um uns wieder zusammenzubringen!«, sagte sie scharf.
»Das unterstelle ich auch nicht. Tatsächlich bin ich sogar ziemlich sicher, dass es nicht so ist. Nicht auf lange Sicht jedenfalls. Doch kurzfristig gesehen wäre es ganz praktisch, mich zur Hand zu haben. Aber ich tanze nicht nach deiner Pfeife. Ich habe dir gesagt, ich helfe dir bei der Lösung deiner praktischen Probleme, beispielsweise bei der Beerdigung. Aber ich bin sicher, was die Sorge um deinen Nachlass und irgendwelche Komplikationen durch Alex’ unerwartetes Ableben betrifft, stehen dir die besten nur denkbaren Anwälte zur Seite. Offen gestanden …«, er zögerte, doch dann beendete er halsstarrig seinen Satz:
»… offen gestanden ist es alles andere als schicklich, wenn ich zu lange hier bei dir bleibe. Sobald Meredith nach Bamford zurückfährt, fahre ich mit ihr.« Rachel hob das Glas zu einem ironischen Trinkspruch.
»Der gute Alan! Wie wunderbar altmodisch du schon immer gewesen bist!«
»Wenn du es so nennen willst, meinetwegen. Ich nenne es Selbsterhaltung.«
»Hast du etwa Angst vor mir, Alan?« Sie lächelte.
»Du musst keine Angst haben. Und du irrst dich, lass dir das gesagt sein. Ich habe Meredith nicht als Köder benutzt, um dich herzulocken. Ich würde außerdem gerne glauben, dass du auch so gekommen wärst, wenn ich dich darum gebeten hätte. Um der alten Zeiten willen. Oder vielleicht nicht?« Sie hob eine feine, sorgfältig nachgezogene Augenbraue. Markby seufzte.
»Vielleicht.«
»Siehst du, Alan? Ich bin dir immer noch nicht ganz gleichgültig.« Sie stellte ihr leeres Glas ab und erhob sich aus ihrem Sessel.
»Ich werde mal nachsehen, wie weit Mrs. Pascoe in der Küche ist.«